Der Atheismus vollendete, was das Papsttum begonnen hatte. Roms Politik hatte die Zustände auf sozialem, politischem und religiösem Gebiet heraufbeschworen, die Frankreich nun dem Verderben entgegentrieben. Schriftsteller, die von den Schrecken der Revolutionszeit berichteten, legten diese Ausschreitungen dem Thron und der Kirche zur Last. Streng genommen trug die Kirche die Verantwortung dafür. Das Papsttum hatte die Sinne der Könige vergiftet und gegen die Reformation als Feind der Monarchie aufgehetzt, ein Element der Zwietracht, das dem Frieden und der Einheit der Nation zum Verhängnis wurde. Der Geist Roms rief die schrecklichsten Grausamkeiten und schlimmste Unterdrückung hervor, die je von einem Thron ausgegangen waren. VSL 253.1
Mit der Bibel kam der Geist der Freiheit. Wo das Evangelium angenommen wurde, belebte es den Geist der Menschen. Langsam streiften sie die Fesseln der Unwissenheit, der Unmoral und des Aberglaubens ab, die sie so lange versklavt hatten, und begannen selbstständig zu denken und zu handeln. Monarchen sahen es und fürchteten um ihre Willkürherrschaft. VSL 253.2
Rom tat alles, um diese eifersüchtigen Ängste zu schüren. 1525 sagte der Papst zu Frankreichs Herrscher: »Diese Tollwut [der Protestantismus] wird nicht nur die Religion verwirren und verderben, sondern auch alle Herrschaften, Gesetze, Orden und Rangunterschiede.” (FGPF, I, 2, § 8) Einige Jahre später warnte ein päpstlicher Nuntius den König: »Sire, täuschen Sie sich nicht, die Protestanten werden die bürgerliche wie die religiöse Ordnung untergraben. ... Der Thron ist ebenso sehr in Gefahr wie der Altar. ... Die Einführung einer neuen Religion bringt notwendigerweise die einer neuen Regierung mit sich.” (DAGC, II, 36) Theologen sprachen die Vorurteile des Volkes an, als sie erklärten, dass die protestantische Lehre »die Leute zu Neuerungen und Torheiten verlockt, dem König die aufopfernde Liebe seiner Untertanen raubt und Kirche und Staat verheert”. So gelang es Rom, die französische Nation gegen die Reformation aufzuwiegeln. »Zur Erhaltung des Thrones, zur Bewahrung des Adels und zur Aufrechterhaltung der Gesetze wurde das Schwert der Verfolgung in Frankreich zuerst gezogen.« (WHP, XIII, 4) VSL 253.3
In keiner Weise sahen die Herrscher die Folgen ihrer Politik voraus, die dem Land zum Verhängnis wurden. Die biblischen Lehren hätten den Menschen die Grundsätze von Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Wahrheit, Gleichheit und Wohltätigkeit in ihren Geist und in ihr Herz eingepflanzt, die tatsächlich die Grundlage des Wohlergehens einer jeden Nation sind. »Gerechtigkeit erhöht ein Volk.” (Sprüche 14,34) »Durch Gerechtigkeit wird der Thron befestigt.« (Sprüche 16,12) »Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein.” (Jesaja 32,17) Wer dem göttlichen Gesetz gehorcht, beachtet auch die Gesetze seines Landes genau. Wer Gott fürchtet, ehrt auch den König bei der Ausübung seiner gerechten und legitimen Autorität. Aber das unglückliche Frankreich verbot die Bibel und verbannte deren Anhänger. Aufrichtige, unbescholtene und prinzipientreue Menschen von intellektuellem Scharfsinn und sittlicher Kraft, die den Mut hatten, zu ihrer Überzeugung zu stehen, für ihren Glauben und für die Wahrheit zu leiden, ließ man jahrhundertelang als Galeerensklaven schuften, auf dem Scheiterhaufen verbrennen oder in dumpfen Kerkern verschmachten. Abertausende konnten sich durch Flucht retten. Vom Beginn der Reformation an blieb diese Lage 250 Jahre lang unverändert. VSL 253.4
»Während jener langen Zeitspanne gab es unter den Franzosen kaum eine Generation, die nicht Zeuge gewesen wäre, wie Jünger des Evangeliums vor der wahnsinnigen Wut der Verfolger flohen und Bildung, Künste, Gewerbefleiß und Ordnungsliebe, in denen sie sich in der Regel auszeichneten, mit sich nahmen. Damit bereicherten sie das Land, das ihnen Zuflucht bot. Im gleichen Verhältnis, wie andere Länder mit diesen guten Gaben beglückt wurden, verarmte ihr eigenes Land. Wären alle, die vertrieben wurden, in Frankreich geblieben, hätte die Geschicklichkeit dieser Verbannten in ihren Gewerben während 300 Jahren auf die heimatliche Scholle befruchtend wirken können. In dieser langen Zeit wären ihre künstlerischen Fähigkeiten der heimatlichen Wirtschaft zugute gekommen. Ihr schöpferischer Geist und forschender Verstand hätte die Literatur des Landes befruchtet und seine Wissenschaften gefördert. Ihre Weisheit hätte seine Beratungen geleitet, ihre Tapferkeit seine Schlachten geschlagen, ihre Unparteilichkeit seine Gesetze aufgestellt. Die Religion der Bibel hätte den Geist des Volkes gestärkt und dessen Gewissen beherrscht. Welches Ansehen hätte Frankreich in jener Zeit erreicht! Welch großes, blühendes und glückliches Land - den Nationen ein Vorbild - hätte es sein können! VSL 254.1
Aber eine blinde, nicht zu überwindende Unbelehrbarkeit verjagte jeden Lehrer der Tugend, jeden Streiter für Ordnung, jeden ehrlichen Verteidiger des Thrones aus seiner Heimat. Sie sagten zu den Menschen, die ihr Land zu Ruhm und Ansehen auf Erden hätte bringen können: ›Wählt, was ihr haben wollt, den Scheiterhaufen oder die Verbannung!‹ Schließlich war der Untergang des Staates vollständig. Es blieb kein Gewissen mehr, das man ächten, keine Religion, die man auf den Scheiterhaufen schleppen, kein Patriotismus, den man in die Verbannung jagen konnte.” Die Revolution mit all ihren Gräueln war die schreckliche Folge. 45Siehe Glossar »Frankreich, Schreckensherrschaft (La terreur)«, S. 658. VSL 254.2
»Mit der Flucht der Hugenotten erfuhr Frankreich einen allgemeinen Rückschritt. Blühende Fabrikstädte gingen zugrunde, fruchtbare Gebiete kehrten zu ihrer ursprünglichen Wildnis zurück, geistiger Stumpfsinn und sittlicher Verfall folgten einer Zeit ungewöhnlichen Fortschritts. Paris wurde ein riesiges Armenhaus; es wird geschätzt, dass beim Ausbruch der Revolution 200.000 Arme Unterstützung vom König verlangten. Nur der Jesuitenorden blühte in der verfallenen Nation und herrschte mit fürchterlicher Willkür über Kirchen und Schulen, Gefängnisse und Galeeren.” (WHP, XIII, 20) VSL 255.1