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Jesus Weint Über Jerusalem SDL 554

Als der Umzug die Hügelkuppe erreicht hatte und im Begriff war, in die Stadt hinunter zu ziehen, hielt Jesus an und mit ihm die ganze Menge. Vor ihnen lag Jerusalem in seiner ganzen Pracht und erstrahlte im Licht der untergehenden Sonne. Der Tempel zog alle Blicke auf sich. In seiner stattlichen Erhabenheit überragte er alles andere, und es schien, als würde er zum Himmel zeigen, um das Volk auf den einzig wahren und lebendigen Gott hinzuweisen. Schon seit langer Zeit war der Tempel der ganze Stolz und Ruhm der jüdischen Nation. Selbst die Römer brüsteten sich mit seiner Herrlichkeit. Ein durch die Römer eingesetzter König hatte sich mit den Juden geeinigt, ihn umzubauen und zu verzieren, und der römische Kaiser sandte kostbare Geschenke für den Tempel in Jerusalem. Seine Erhabenheit, sein Reichtum und seine Pracht ließen ihn zu einem der Weltwunder werden. SDL 554.2

Während die Sonne langsam im Westen sank und den Himmel in Feuer verwandelte, ließen ihre Strahlen den reinen, weißen Marmor der Tempelmauern rot aufleuchten, und die mit Gold verzierten Säulen glänzten. Vom Gipfel des Hügels aus, wo Jesus und seine Nachfolger standen, schien es, als wäre der Tempel ein gewaltiges Bauwerk aus Schnee, besetzt mit goldenen Zinnen. Am Eingang des Tempels stand ein von den geschicktesten Künstlern geschaffener Weinstock aus Gold und Silber mit grünen Blättern und großen Trauben. Dieses Werk stellte Israel als fruchtbaren Weinstock dar. Gold, Silber und lebendiges Grün waren von auserlesenem Geschmack und in ausgezeichneter Kunstfertigkeit miteinander verarbeitet worden. Seine Ranken wanden sich anmutig um die weißen, gleißenden Säulen und verbanden sich mit deren goldenen Ornamenten. Der Glanz der untergehenden Sonne ließ den Weinstock erstrahlen, als hätte ihm der Himmel seine Herrlichkeit verliehen. SDL 555.1

Die Augen von Jesus schweiften über die Ebene. Die riesige Menge stand wie gebannt, und die Jubelrufe verstummten beim Anblick solch unerwarteter Schönheit. Alle Augen richteten sich auf den Erlöser. Sie erwarteten, dass sich auf seinem Angesicht dieselbe Bewunderung breitmachen werde, die sie selbst empfanden. Stattdessen bemerkten sie einen bekümmerten Ausdruck in seinem Gesicht. Sie waren überrascht und enttäuscht, als sie sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und sein Körper hin und herschwankte wie ein Baum vor dem herannahenden Sturm. Wie aus der Tiefe eines gebrochenen Herzens kam ein gequältes Seufzen über seine bebenden Lippen. Welch ein Anblick war es für die Engel, ihren geliebten Befehlshaber qualvoll weinen zu sehen! Welch ein Anblick für die fröhliche Menge, die ihn mit Jubelrufen und wedelnden Palmzweigen, in der sehnlichsten Hoffnung, er werde dort seine Herrschaft antreten, zur prächtigen Stadt begleitet hatte! Jesus hatte am Grab von Lazarus geweint, doch dies geschah aus göttlichem Schmerz heraus, aus Mitgefühl menschlichem Leid gegenüber. Dieser unerwartete Kummer aber war wie ein klagender Ton in einem großen Jubelchor. Mitten in diesem freudigen Geschehen, wo ihn alle ehrten, stand der König Israels und weinte. Es waren keine stillen Freudentränen, sondern Tränen und Seufzer aus einer Qual heraus, die nicht unterdrückt werden konnte. Plötzlich machte sich eine drückende Stimmung in der Menge breit. Der Jubel war verstummt. Viele weinten aus Mitgefühl mit einem Kummer, den sie nicht nachvollziehen konnten. SDL 555.2

Jesus weinte nicht in der Vorahnung auf sein eigenes Leiden. Gleich unterhalb von ihm lag Gethsemane, wo ihn bald die Schrecken einer großen Finsternis überschatten würden. Von dort aus konnte man auch das Schaftor sehen, durch welches jahrhundertelang die Tiere zur Opferung geführt wurden. Dieses Tor sollte schon bald geöffnet werden - für ihn, das große eigentliche Opfer80Die Autorin verwendet hier den Fachbegriff »Antitypus« (Erfüllung, Gegenbild). Siehe dazu den Eintrag zu »Typologie« bei den Erklärungen, S. 821. für die Sünden der Welt, auf das all diese Tieropfer symbolisch hingewiesen hatten. Nicht weit davon entfernt lag Golgatha, der Schauplatz seiner bevorstehenden Todesqualen. Doch der Erlöser weinte nicht und litt nicht an Seelenangst, weil all diese Dinge ihn an seinen grausamen Tod denken ließen. Sein Schmerz kam nicht aus einem eigennützigen Grund. Der Gedanke an das eigene Leiden konnte sein edles, selbstaufopferndes Wesen nicht einschüchtern. Es war der Anblick von Jerusalem, der ihn ins Herz traf - der Stadt, die den Sohn Gottes verworfen und seine Liebe verschmäht hatte, die es abgelehnt hatte, sich durch seine machtvollen Wunder überzeugen zu lassen, und nun im Begriff war, ihn zu töten. Jesus sah, wie es um sie stand. Er sah, wie sie ihren Erlöser verwarf und damit Schuld auf sich lud. Er wusste, was sie hätte sein können, wenn sie den Erlöser, der allein ihre Wunden hätte heilen können, angenommen hätte. Er war gekommen, Jerusalem zu retten. Wie konnte er es aufgeben? SDL 555.3

Israel war ein bevorzugtes Volk. Gott hatte ihren Tempel zu seiner Wohnung gemacht. Dieser war »eine Freude für die ganze Welt« (Psalm 48,3b GNB) und bezeugte die über 1000 Jahre währende Fürsorge von Christus und die herzliche Liebe, wie sie ein Vater seinem einzigen Kind erweist. In diesem Tempel hatten die Propheten ihre ernsten Warnungen ausgesprochen. Hier wurden die Räuchergefäße geschwenkt, während der Weihrauch mit den Gebeten der Gläubigen zu Gott emporstieg. Hier floss das Blut der Opfertiere als Sinnbild für das Blut von Jesus, und hier offenbarte Jahwe seine Herrlichkeit über dem Gnadenthron. Hier versahen die Priester ihren Dienst, und hier fanden die prunkvollen, symbolischen Zeremonien seit Jahrhunderten statt. Doch all das sollte nun ein Ende haben. SDL 556.1