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Die Grosse Verzweiflung SDL 701

Als sich das Verhör dem Ende näherte, konnte Judas die Qual seines schuldbeladenen Gewissens nicht länger ertragen. Plötzlich durchdrang ein heiserer Schrei, der alle Herzen mit Schrecken erschaudern ließ, die Gerichtshalle: Er ist unschuldig! Gib ihn frei, Kaiphas! SDL 701.1

Nun sah man, wie sich die hochgewachsene Gestalt von Judas durch die erstaunte Menge drängte. Sein Gesicht war bleich und verstört, und auf seiner Stirn standen große Schweißtropfen. Er stürzte auf den Richterstuhl zu, warf die dreißig Silberlinge - den Preis für seinen Verrat - dem Hohenpriester vor die Füße, ergriff in ungeduldiger Hast das Gewand von Kaiphas und flehte ihn an, Jesus freizugeben. Er erklärte, dass dieser nichts getan habe, was den Tod rechtfertige. Erbost schüttelte ihn Kaiphas ab. Doch er war verwirrt und wusste nicht, was er sagen sollte. Die Heimtücke der Priester war nun klar sichtbar geworden, denn es war offensichtlich, dass sie den Jünger bestochen hatten, um seinen Meister zu verraten. SDL 701.2

»Ich habe gesündigt«, schrie Judas, »ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert.« Doch der Hohepriester, der seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, erwiderte verächtlich: »Was geht das uns an? Das ist deine Sache.« (Matthäus 27,4 EÜ) Die Priester waren bereit gewesen, Judas zu ihrem Werkzeug zu machen, verachteten aber gleichzeitig seine Niederträchtigkeit. Als er sich mit seinem Geständnis an sie wandte, wiesen sie ihn ab. SDL 701.3

Nun warf sich Judas Jesus zu Füßen, erkannte ihn als Sohn Gottes an und flehte ihn an, sich selbst zu befreien. Der Erlöser machte seinem Verräter keine Vorwürfe. Er wusste, dass Judas nicht wirklich bereute. Das Geständnis, das sich seiner schuldbeladenen Seele entrang, entsprang der schrecklichen Angst vor der Verdammung und dem kommenden Gericht. Er verspürte jedoch keinen tiefen, herzzerreißenden Schmerz darüber, dass er den schuldlosen Sohn Gottes verraten und den Heiligen Israels verleugnet hatte. Trotzdem verurteilte ihn Jesus mit keinem Wort. Voller Mitleid schaute er auf Judas und sagte: Wegen dieser Stunde bin ich in die Welt gekommen. SDL 701.4

Ein überraschtes Raunen ging durch die Versammlung. Verwundert sahen sie, wie nachsichtig Jesus mit seinem Verräter umging. Erneut waren sie überzeugt, dass dieser Mann mehr als ein sterblicher Mensch war. Aber wenn er Gottes Sohn war, so fragten sie sich weiter, warum befreite er sich nicht von seinen Fesseln und triumphierte über seine Ankläger? SDL 701.5

Als Judas erkannte, dass sein Bitten und Flehen erfolglos blieb, rannte er aus der Halle und schrie laut: Es ist zu spät! Es ist zu spät! Er spürte, dass er es nicht ertragen konnte, mitanzusehen, wie Jesus gekreuzigt wurde. Verzweifelt ging er hinaus und erhängte sich (vgl. Matthäus 27,5). SDL 701.6

Später am selben Tag wurde auf dem Weg vom Palast des Pilatus nach Golgatha das Geschrei und Gespött der bösartigen Menschen, die Jesus zur Kreuzigungsstätte begleiteten, jäh unterbrochen. An einer einsamen Stelle erblickten sie am Fuß eines abgestorbenen Baumes den Leichnam von Judas. Was für ein schrecklicher Anblick! Das schwere Gewicht seines Körpers hatte den Strick, mit dem er sich am Baum erhängt hatte, zerrissen. Durch den Fall war sein Körper schrecklich entstellt worden (vgl. Apostelgeschichte 1,18). Nun fraßen ihn die Hunde auf. Seine Überreste wurden unverzüglich weggeschafft und begraben. Nun ließ der Spott unter der Menge nach, und manches bleiche Gesicht offenbarte die Gedanken des Herzens. Vergeltung schien schon diejenigen heimzusuchen, die am Blut von Jesus schuldig geworden waren. SDL 702.1