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Marias Gedanken Über Jesus SDL 125

Hier traf er nach längerer Zeit seine Mutter wieder. Maria hatte von den Ereignissen bei seiner Taufe am Jordan gehört. Die Neuigkeiten waren bis nach Nazareth gedrungen und hatten in ihr Erinnerungen geweckt, die so viele Jahre in ihrem Herzen verborgen geblieben waren. Auch sie war, wie alle anderen in Israel, vom Auftreten des Täufers tief bewegt worden. Sie konnte sich gut an die Vorhersagen bei seiner Geburt erinnern. Seine Beziehung zu Jesus weckte neue Hoffnungen in ihr. Aber die Nachricht über das geheimnisvolle Verschwinden von Jesus in die Wüste hatte sie ebenfalls erreicht und mit beunruhigenden Vorahnungen erfüllt. SDL 125.3

Von dem Tag an, als sie die Ankündigung des Engels in ihrem Heim in Nazareth gehört hatte, bewahrte Maria jeden Hinweis darauf, dass Jesus der Messias war, in ihrem Herzen. Sein reines, selbstloses Leben gab ihr die Gewissheit, dass er der von Gott Gesandte war. Trotzdem wurde sie manchmal von Zweifeln und Enttäuschungen geplagt und sehnte sich danach, dass Jesus seine Herrlichkeit offenbar machen würde. Josef, der mit ihr um das Geheimnis der Geburt von Jesus wusste, war gestorben. Maria hatte niemanden, mit dem sie über ihre Hoffnungen und Ängste reden konnte. Die letzten zwei Monate waren für sie sehr sorgenvoll gewesen. Jesus, dessen Mitgefühl ihr stets ein Trost war, hatte sein Zuhause verlassen. Sie hatte viel über die Worte Simeons nachgedacht: »Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen« (Lukas 2,35). Sie erinnerte sich auch an die drei Tage ihrer Seelenangst, als sie glaubte, Jesus für immer verloren zu haben. So wartete sie jetzt mit besorgtem Herzen auf seine Rückkehr. SDL 125.4

Auf der Hochzeit traf sie Jesus wieder - denselben liebevollen, pflichtbewussten Sohn. Und doch war er anders. Sein Aussehen hatte sich verändert. Er war von den Spuren seines Kampfes in der Wüste gezeichnet. Ein Ausdruck von Würde und Kraft zeugte nun von seiner göttlichen Sendung. Er wurde von einer Gruppe junger Männer begleitet, deren Augen ehrfürchtig auf ihn gerichtet waren und die ihn Meister nannten. Diese Begleiter berichteten Maria, was sie bei der Taufe von Jesus und bei anderen Gelegenheiten gehört und gesehen hatten. Sie schlossen mit den Worten: »Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.« (Johannes 1,45) SDL 126.1

Als sich die Gäste versammelten, schienen sich viele für ein besonderes Gesprächsthema zu interessieren. Es herrschte eine gespannte Zurückhaltung. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen angeregt und leise miteinander. Verwunderte Blicke waren auf Marias Sohn gerichtet. Nachdem Maria die Worte der Jünger über Jesus gehört hatte, wurde sie von der freudigen Gewissheit erfüllt, dass ihre lang gehegten Hoffnungen nicht vergebens waren. Maria wäre nicht ein Mensch gewesen, hätte sich die heilige Freude nicht mit ihrem natürlichen Mutterstolz vermischt. Als sie die vielen Blicke sah, die auf Jesus gerichtet waren, wünschte sie sich sehnlichst, er würde der Hochzeitsgesellschaft beweisen, dass er wirklich der Geehrte Gottes war. Sie hoffte auf eine Gelegenheit, bei der er öffentlich ein Wunder vollbringen würde. SDL 126.2

JESUS UND SEINE MUTTER SDL 126.3

In jener Zeit war es üblich, dass die Feierlichkeiten einer Hochzeit mehrere Tage dauerten. Bevor das Fest zu Ende war, stellte sich heraus, dass der Vorrat an Wein nicht ausreichen würde, was Bestürzung und Sorge auslöste. Es war ungewöhnlich, an Festen auf Wein zu verzichten. Das Fehlen von Wein wäre als mangelnde Gastfreundschaft angesehen worden. Maria hatte als Verwandte des Brautpaares bei den Vorbereitungen zum Fest mitgeholfen und sagte jetzt zu Jesus: »Sie haben keinen Wein mehr.« (Johannes 2,3) Diese Worte waren ein Wink, dass er sie mit dem Nötigsten versorgen könnte. Aber Jesus antwortete: »Was geht’s dich an, Frau, 34Wörtlich: »Was (ist zwischen) mir und dir, Frau?« was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« (Johannes 2,4) SDL 126.4

Diese uns schroff erscheinende Antwort drückte keine Kälte oder Unhöflichkeit aus. Die Art, wie der Erlöser seine Mutter anredete, entsprach durchaus der damaligen orientalischen Gepflogenheit. Man bediente sich dieser Anrede bei Personen, denen man Achtung erweisen wollte. Jede Handlung von Christus auf dieser Erde entsprach dem von ihm selbst erlassenen Gebot: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« (2. Mose 20,12) Als Jesus am Kreuz seiner Mutter zum letzten Mal seine liebevolle Aufmerksamkeit schenkte, sprach er sie wieder in der gleichen Weise an und übergab sie dann der Fürsorge seines Lieblingsjüngers (vgl. Johannes 19,26). Sowohl bei der Hochzeit als auch am Kreuz erklärte die in seiner Stimme, seinem Blick und seinem Verhalten zum Ausdruck kommende Liebe die Bedeutung seiner Worte. SDL 127.1

Bei seinem Besuch als Junge im Tempel, als ihm das Geheimnis seiner Lebensaufgabe bewusst wurde, hatte Christus zu Maria gesagt: »Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?« (Lukas 2,49) Diese Worte umschrieben das Leitmotiv seines ganzen Lebens und Wirkens sehr treffend. Alles musste sich seinem großen Erlösungswerk unterordnen, das zu erfüllen er gekommen war. Nun wiederholte er diese Lehre. Weil Maria mit Jesus verwandt war, stand sie in der Gefahr, anzunehmen, dass sie ein besonderes Anrecht auf ihn hätte oder ihm gewissermaßen Anweisungen für seinen Dienst erteilen könnte. 30 Jahre lang war er ihr ein liebevoller und gehorsamer Sohn gewesen, und seine Liebe war unverändert geblieben. Doch nun musste er mit dem Werk seines himmlischen Vaters beginnen. Als Sohn des Allerhöchsten und als Erlöser der Welt durften ihn keine irdischen Bindungen von der Erfüllung seiner Aufgabe abhalten oder sein Verhalten beeinflussen. Er musste frei sein, um den Willen Gottes erfüllen zu können. Darin liegt auch eine Lehre für uns: Gottes Ansprüche stehen höher als die Bindungen menschlicher Beziehungen. Wir sollen uns durch keine irdischen Verlockungen vom Weg, den Gott uns zu gehen heißt, abbringen lassen. SDL 127.2

Die einzige Hoffnung auf Erlösung für unser gefallenes Menschengeschlecht liegt in Christus. Auch Maria konnte nur durch das Lamm Gottes Erlösung finden, denn sie selbst besaß keine eigenen Verdienste. Ihre Beziehung zu Jesus setzte sie in kein anderes geistliches Verhältnis ihm gegenüber als andere Menschen. Dies gab der Erlöser mit seinen Worten zu verstehen. Jesus machte eine klare Unterscheidung in seinem Verhältnis zu ihr als Menschensohn und als Gottessohn. Ihre verwandtschaftliche Beziehung stellte Maria in keiner Weise auf die gleiche Stufe mit ihm. SDL 127.3

Die Worte »Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Johannes 2,4) wiesen auf die Tatsache hin, dass jede Handlung von Christus in seinem irdischen Leben eine Erfüllung des Plans war, der schon seit ewigen Zeiten bestanden hatte. Bevor Jesus auf diese Erde kam, lag ihm der Plan in allen Einzelheiten vor. Als er aber unter uns Menschen weilte, wurde er Schritt für Schritt vom Willen seines Vaters geleitet. Er zögerte nicht, zu der für ihn bestimmten Zeit zu handeln. Der gleiche Gehorsam ließ ihn aber auch warten, bis seine Zeit gekommen war. SDL 128.1

Als er zu Maria sagte, dass seine Stunde noch nicht gekommen sei, reagierte Jesus auf ihren unausgesprochenen Gedanken - auf die Messiaserwartung, die Maria gemeinsam mit den anderen hegte. Sie hoffte, er würde sich als Messias offenbaren und den Thron Israels besteigen. Doch die Zeit dafür war noch nicht reif. Jesus hatte das Los der Menschheit nicht als König auf sich genommen, sondern als »ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut« (Jesaja 53,3 Elb.). SDL 128.2