Auf der Grundlage von Daniel 6.
Als Darius der Meder den Thron bestieg, den zuvor die babylonischen Herrscher innegehabt hatten, fing er sofort an, die Regierung umzubilden. Er setzte “über das ganze Königreich hundertundzwanzig Statthalter ... Über sie setzte er drei Fürsten, von denen einer Daniel war. Ihnen sollten die Statthalter Rechenschaft ablegen, damit der König der Mühe enthoben wäre. Daniel aber übertraf alle Fürsten und Statthalter, denn es war ein überragender Geist in ihm. Darum dachte der König daran, ihn über das ganze Königreich zu setzen.” Daniel 6,2-4. Die Ehren, die Daniel erwiesen wurden, erregten den Neid der führenden Männer des Königreichs, und sie suchten nach einem Anlaß, ihn zu verklagen. Sie konnten jedoch keinen entdecken; “denn er war treu, so daß man keine Schuld und kein Vergehen bei ihm finden konnte”. Daniel 6,5. Daniels tadellose Lebensführung reizte die Eifersucht seiner Feinde noch mehr. Sie mußten zugeben: “Wir werden keinen Grund zur Anklage gegen Daniel finden, es sei denn wegen seiner Gottesverehrung.” Daniel 6,6. PK 377.1
Darauf berieten sich die Statthalter und Fürsten miteinander und ersannen eine Intrige, durch die sie Daniel zugrunde zu richten hofften. Sie beschlossen, dem König die Unterzeichnung eines von ihnen vorbereiteten Erlasses vorzuschlagen. Nach diesem Erlaß sollte es für die Dauer von dreißig Tagen jedem Bewohner des Königreichs verboten sein, etwas von Gott oder von Menschen zu erbitten, außer vom König Darius. Bei Verletzung dieses Gebotes sollte der Übertreter zur Strafe in eine Löwengrube geworfen werden. PK 377.2
Die Fürsten arbeiteten also einen entsprechenden Erlaß aus und legten ihn Darius zur Unterschrift vor. Dadurch, daß sie ihn davon überzeugten, die Durchführung dieser Anordnung werde seine Ehre und sein Ansehen beträchtlich mehren, schmeichelten sie seiner Eitelkeit. Der König durchschaute nicht die tückische Absicht der Fürsten, er erkannte nicht ihre Bösartigkeit, die sich in dem Erlaß kundtat. Ihren Schmeicheleien nachgebend, unterzeichnete er ihn. PK 377.3
Die Feinde Daniels gingen von Darius fort, wobei sie darüber frohlockten, wie geschickt sie dem Diener des Herrn eine Falle gestellt hatten. Am Zustandekommen dieser Verschwörung hatte Satan einen wesentlichen Anteil. Der Prophet übte eine hohe Regierungsgewalt im Königreich aus, und dämonische Engel fürchteten, daß sein Einfluß ihre Macht über die Herrscher schwächen könnte. Eben diese satanischen Mächte hatten die Fürsten zu Neid und Eifersucht aufgestachelt und ihnen den Plan zur Vernichtung Daniels eingegeben. Die Fürsten setzten ihn in die Tat um und sanken damit zu Werkzeugen der Finsternis herab. PK 378.1
Für das Gelingen ihres Planes rechneten die Feinde des Propheten mit Daniels Grundsatztreue, und sie irrten sich nicht in der Einschätzung seines Charakters. Zwar durchschaute er sofort ihre boshafte Absicht beim Entwurf des Erlasses; trotzdem änderte er sein Verhalten nicht im geringsten. Warum sollte er jetzt zu beten aufhören, wo es am meisten nötig war? Lieber wollte er sein Leben verlieren, nicht aber seine Hoffnung auf Gottes Hilfe. Ruhig kam er seinen Pflichten als oberster Statthalter nach. Doch zur Stunde des Gebets ging er in sein Obergemach, das “Fenster hatte, die nach Jerusalem hin offen standen” und richtete seine Bitten an den Gott des Himmels, “wie er es auch vordem regelmäßig getan hatte”. Daniel 6,10 (Menge). Er versuchte nicht, sein Handeln zu verbergen. Obwohl er sich sehr wohl über die Folgen seiner Treue zu Gott klar war, ließ er sich doch nicht entmutigen. Denen gegenüber, die seinen Untergang planten, wollte er nicht einmal den Schein erwecken, als sei seine Verbindung mit dem Himmel unterbrochen. In allen Fällen, in denen der König das Recht besaß zu gebieten, gehorchte Daniel; aber weder der König noch dessen Erlaß konnten ihn von der Untertanentreue gegenüber dem König aller Könige abbringen. PK 378.2
Auf diese Weise bekundete der Prophet kühn und dennoch ruhig und bescheiden, daß keine irdische Macht berechtigt sei, sich zwischen den Menschen und Gott zu drängen. Von lauter Götzendienern umgeben, zeugte er treu für diese Wahrheit. Sein unerschrockenes Festhalten am Recht wirkte wie ein helles Licht in der sittlichen Finsternis jenes heidnischen Hofes. Auch heute bietet Daniel der Welt ein würdiges Beispiel für christliche Furchtlosigkeit und Treue. PK 378.3
Die Fürsten beobachteten Daniel einen ganzen Tag lang. Dreimal sahen sie ihn in sein Zimmer gehen, und dreimal hörten sie, wie er seine Stimme in ernster Fürbitte zu Gott erhob. Am nächsten Morgen legten sie ihre Beschwerde dem König vor. Daniel, sein geehrtester und treuester Staatsmann, hatte dem Erlaß getrotzt. “Hast du nicht ein Gebot erlassen”, so erinnerten sie ihn, “daß jeder, der in dreißig Tagen etwas bitten würde von irgendeinem Gott oder Menschen außer von dir, dem König, allein, zu den Löwen in die Grube geworfen werden solle?” PK 379.1
“Das ist wahr, und das Gesetz der Meder und Perser kann niemand aufheben”, antwortete der König. Daniel 6,13. PK 379.2
Frohlockend unterrichteten sie nun Darius über das Verhalten seines vertrautesten Ratgebers. “Daniel, einer der Gefangenen aus Juda, der achtet weder dich noch dein Gebot, das du erlassen hast; denn er betet dreimal am Tage” (Daniel 6,14), riefen sie aus. PK 379.3
Als der Monarch dies hörte, erkannte er sofort, welche Falle seinem treuen Diener gestellt worden war. Er sah ferner, daß nicht Eifer für seinen königlichen Ruhm und seine königliche Ehre zu dem Vorschlag eines königlichen Erlasses geführt hatten, sondern Eifersucht auf Daniel. Er wurde “sehr betrübt” wegen seines Anteils an diesem bösen Spiel “und mühte sich, bis die Sonne unterging” (Daniel 6,15), seinen Freund zu retten. Die Fürsten sahen diese Bestrebungen des Königs voraus. Deshalb richteten sie folgende Worte an ihn: “Du weißt doch, König, es ist das Gesetz der Meder und Perser, daß alle Gebote und Befehle, die der König beschlossen hat, unverändert bleiben sollen.” Daniel 6,16. Obwohl übereilt erlassen, galt das Gebot unverändert und mußte ausgeführt werden. PK 379.4
“Da befahl der König, Daniel herzubringen. Und sie warfen ihn zu den Löwen in die Grube. Der König aber sprach zu Daniel: Dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienst, der helfe dir! Und sie brachten einen Stein, den legten sie vor die Öffnung der Grube; den versiegelte der König mit seinem eigenen Ring und mit dem Ringe seiner Mächtigen, damit nichts anderes mit Daniel geschähe. Und der König ging weg in seinen Palast und fastete die Nacht über und ließ kein Essen vor sich bringen und konnte auch nicht schlafen.” Daniel 6,17-19. PK 379.5
Gott hinderte Daniels Feinde nicht daran, ihn in die Löwengrube zu werfen. Er ließ zu, daß böse Engel und ruchlose Menschen ihre Absicht so weit verwirklichen konnten; aber das geschah nur, um die Errettung seines Dieners um so auffälliger hervortreten zu lassen und den Feinden der Wahrheit und Gerechtigkeit eine um so gründlichere Niederlage zu bereiten. “Wenn Menschen wider dich wüten, bringt es dir Ehre” (Psalm 76,11), hat der Psalmist bezeugt. Durch den Mut dieses einen Mannes, der lieber dem Recht als der politischen Klugheit folgte, sollte Satan besiegt und der Name Gottes verherrlicht und geehrt werden. PK 380.1
Früh am nächsten Morgen eilte König Darius zu der Grube und rief mit angsterfüllter Stimme: “Daniel, du Knecht des lebendigen Gottes, hat dich dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienst, auch erretten können von den Löwen?” PK 380.2
Der Prophet antwortete: “Der König lebe ewig! Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, so daß sie mir kein Leid antun konnten; denn vor ihm bin ich unschuldig, und auch gegen dich, mein König, habe ich nichts Böses getan. PK 380.3
Da wurde der König sehr froh und ließ Daniel aus der Grube herausziehen. Und sie zogen Daniel aus der Grube heraus, und man fand keine Verletzung an ihm, denn er hatte seinem Gott vertraut. PK 380.4
Da ließ der König die Männer, die Daniel verklagt hatten, holen und zu den Löwen in die Grube werfen samt ihren Kindern und Frauen. Und ehe sie den Boden erreichten, ergriffen die Löwen sie und zermalmten alle ihre Knochen.” Daniel 6,20-25. PK 380.5
Wieder einmal erließ ein heidnischer Herrscher eine Proklamation, die den Gott Daniels als den wahren Gott pries. “Da ließ der König Darius allen Völkern und Leuten aus so vielen verschiedenen Sprachen auf der ganzen Erde schreiben: Viel Friede zuvor! Das ist mein Befehl, daß man in meinem ganzen Königreich den Gott Daniels fürchten und sich vor ihm scheuen soll. Denn er ist der lebendige Gott, der ewig bleibt, und sein Reich ist unvergänglich, und seine Herrschaft hat kein Ende. Er ist ein Retter und Nothelfer, und er tut Zeichen und Wunder im Himmel und auf Erden. Der hat Daniel von den Löwen errettet.” Daniel 6,26-28. PK 380.6
Der ruchlose Widerstand gegen den Diener Gottes war nun völlig gebrochen. “Und Daniel hatte große Macht im Königreich des Darius und auch im Königreich des Cyrus von Persien.” Daniel 6,29. Durch die Verbindung mit ihm waren diese heidnischen Monarchen genötigt, seinen Gott als den lebendigen Gott anzuerkennen, “der ewig bleibt, und sein Reich ist unvergänglich, und seine Herrschaft hat kein Ende”. Daniel 6,27. PK 381.1
Aus der Geschichte von der Errettung Daniels können wir lernen, daß Gottes Kinder in Zeiten der Anfechtung und Dunkelheit genauso bleiben sollten, wie sie waren, als ihre Aussichten hell und hoffnungsvoll schienen und ihre Umgebung ihren Wünschen entsprach. Der Daniel in der Löwengrube war unverändert derselbe Daniel, der als oberster Staatsminister und als Prophet des Höchsten vor dem König stand. Ein Mann, dessen Herz sich auf Gott verläßt, wird in der Stunde der schwersten Prüfung nicht anders sein als in Zeiten des Glücks, wenn das Licht und die Gunst Gottes und der Menschen auf ihn fallen. Der Glaube reicht ins Unsichtbare hinein und begreift ewige Wirklichkeiten. PK 381.2
Gott ist denen sehr nahe, die um der Gerechtigkeit willen leiden. Christus setzt seine Interessen mit denen seines treuen Volkes gleich. Er leidet in der Person seiner Heiligen, und jeder, der seine Auserwählten anrührt, rührt auch ihn an. Die Macht, die vor körperlichem Schaden oder Leid zu erretten nahe ist, hält sich auch bereit, vor dem größeren Übel zu bewahren: sie hilft dem Diener Gottes, unter allen Umständen rechtschaffen zu bleiben und durch göttliche Gnade den Sieg davonzutragen. PK 381.3
Daniels Erfahrungen als Staatsmann in den Königreichen Babylon und Medien-Persien beweisen, daß ein Verwaltungs- oder Geschäftsmann nicht notwendigerweise ein ränkevoller Taktiker sein muß, sondern ein Mensch sein kann, der sich bei jedem seiner Schritte Gottes Weisung unterstellt. Daniel war Premierminister des größten irdischen Reiches und gleichzeitig ein Prophet Gottes, der das Licht himmlischer Erleuchtung empfing. Obwohl er ein schwacher Mensch war wie wir, wird er doch durch göttliche Eingebung als Mensch ohne Fehler beschrieben. Als seine Regierungsgeschäfte von seinen Feinden einer gründlichen Prüfung unterzogen wurden, ergab es sich, daß sie keine fehlerhafte Stelle aufwiesen. Er war ein Beispiel dafür, was aus jedem Mann, dessen Herz bekehrt und geheiligt ist und dessen Beweggründe in den Augen Gottes richtig sind, in seinem Beruf werden kann. PK 381.4
Die genaue Einhaltung der göttlichen Forderungen führt zu zeitlichen, aber auch zu geistlichen Segnungen. Unerschütterlich in seiner Treue zu Gott, unnachgiebig in seiner Selbstbeherrschung, gewann Daniel durch sein würdevolles Verhalten und seine unerschütterliche Rechtschaffenheit schon als junger Mann “Gunst und Verständnis” (Daniel 1,9, Bruns) des heidnischen Beamten, dessen Obhut er anvertraut worden war. Dieselben Charakterzüge kennzeichneten ihn in seinem späteren Leben. Rasch stieg er zum Amt des Premierministers im Königreich Babylon auf. Während der Regierungszeit der aufeinanderfolgenden Monarchen, während des Niedergangs der Nation und während der Aufrichtung eines anderen Weltreiches zeigte er solche Weisheit und Staatskunst, so vollendeten Takt, solche Höflichkeit, solche echte Herzensgüte und Grundsatztreue, daß selbst seine Feinde “keinen Grund zur Anklage finden” konnten, “es sei denn wegen seiner Gottesverehrung”. Daniel 6,6. PK 382.1
Während Menschen Daniel dadurch ehrten, daß sie ihm die Staatsgeschäfte und -geheimnisse von Königreichen übertrugen, die die Welt beherrschten, ehrte ihn Gott als seinen Botschafter und offenbarte ihm viele Geheimnisse der kommenden Zeitalter. Der Prophet konnte seine erstaunlichen Weissagungen, wie er sie in Kapitel sieben bis zwölf des nach ihm benannten Buches aufgezeichnet hat, nicht einmal selbst völlig verstehen. Doch noch ehe sein Lebenswerk abschloß, erhielt er die beglückende Zusicherung, daß er zur “letzten Zeit” — beim Abschluß der Geschichte dieser Welt — zu seinem Erbteil auferstehen dürfe. Es war ihm nicht vergönnt, alles zu verstehen, was Gott ihm über seine Absichten offenbart hatte. “Verbirg diese Worte, und versiegle dies Buch”, wurde ihm hinsichtlich seiner prophetischen Schriften befohlen. Sie sollten “bis auf die letzte Zeit” versiegelt werden. Und wiederum forderte der Engel den treuen Boten des Herrn auf: “Geh hin, Daniel; denn es ist verborgen und versiegelt bis auf die letzte Zeit ... Geh hin, bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage!” Daniel 12,10. PK 382.2
Während wir uns dem Ende der Weltgeschichte nähern, beanspruchen die von Daniel überlieferten Weissagungen unsere volle Aufmerksamkeit, da sie sich gerade auf die Zeit beziehen, in der wir leben. Mit ihnen sollten die Lehren des letzten Buches der neutestamentlichen Schriften verknüpft werden. Satan hat viele zu dem Glauben verleitet, die prophetischen Teile in den Schriften Daniels und des Sehers Johannes seien unverständlich. Doch die Verheißung sagt deutlich, daß das Studium dieser Prophezeiungen von außergewöhnlichem Segen begleitet sein werde. “Die Verständigen werden’s verstehen” (Jeremia 51,14), das wurde über die Gesichte Daniels ausgesagt, die in den letzten Tagen entsiegelt werden sollten. Und der Offenbarung, die Christus seinem Knecht Johannes gab, um Gottes Volk durch alle Jahrhunderte zu führen, gilt die Verheißung: “Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist.” Offenbarung 1,3. PK 382.3
Aus dem Aufstieg und Niedergang der Völker, deutlich gemacht in den Büchern Daniel und Offenbarung, sollten wir lernen, wie wertlos äußerlicher und weltlicher Ruhm ist. Babylon ist mit all seiner Macht und Herrlichkeit, wie sie die Welt seither nie wieder gesehen hat und die den Menschen jener Tage fest und dauerhaft erschienen, so völlig untergegangen! “Wie eine Blume des Grases” (Jakobus 1,10), ist es dahingeschwunden. Genauso gingen das medisch-persische, das griechische und das römische Reich zugrunde. Und so vergeht alles, was nicht in Gott gegründet ist. Nur was mit seinem Ziel aufs engste verknüpft ist und sein Wesen zu erkennen gibt, kann fortdauern. Seine Grundsätze sind das einzige Beständige, das unsere Welt kennt. PK 383.1
Ein sorgfältiges Erforschen, wie sich die Absicht Gottes in der Völkergeschichte und in der Offenbarung zukünftiger Ereignisse verwirklicht, wird uns helfen, das Sichtbare und Unsichtbare nach ihrem richtigen Wert einzuschätzen und das wahre Ziel des Lebens zu erkennen. Sehen wir die zeitlichen Dinge im Lichte der Ewigkeit, dann können wir wie Daniel und seine Freunde für das leben, was wahr und edel und beständig ist. Erfassen wir in diesem Leben die Grundregeln des Königreichs unseres Herrn und Erlösers, also jenes herrlichen Reiches, das ewig dauern soll, können wir bei seinem Kommen bereit sein, es gemeinsam mit ihm einzunehmen. PK 383.2