Die Ankunft der Armee des Cyrus vor den Mauern Babylons war für die Juden ein Zeichen, daß ihre Befreiung aus der Gefangenschaft herannahte. Mehr als hundert Jahre vor der Geburt des Cyrus hatte ihn das prophetische Wort namentlich erwähnt und zugleich berichtet, welchen Anteil er an der unerwarteten Eroberung der Stadt Babylon und an der Befreiung der gefangenen Kinder Israel haben sollte. Durch Jesaja war das Wort ergangen: PK 387.1
“So spricht der Herr zu seinem Gesalbten, zu Cyrus, den ich bei seiner rechten Hand ergriff, daß ich Völker vor ihm unterwerfe und Königen das Schwert abgürte, damit vor ihm Türen geöffnet werden und Tore nicht verschlossen bleiben: Ich will vor dir hergehen und das Bergland eben machen, ich will die ehernen Türen zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrechen und will dir heimliche Schätze geben und verborgene Kleinode, damit du erkennst, daß ich der Herr bin, der dich beim Namen ruft, der Gott Israels.” Jesaja 45,1-3. PK 387.2
Die Armee des persischen Eroberers war unvermutet bis in die Mitte der babylonischen Hauptstadt eingedrungen, und zwar durch das Flußbett, dessen Wasser man abgeleitet hatte, und durch die inneren Tore, die in sorgloser Sicherheit offen und unbewacht gelassen worden waren. Damit hatten die Juden reichlich Beweise dafür, daß sich Jesajas Prophezeiung über den plötzlichen Sturz ihrer Unterdrücker buchstäblich erfüllt hatte. Das hätte für sie ein deutliches Zeichen sein sollen, daß Gott die Angelegenheiten der Völker zu ihren Gunsten lenkte; denn folgende Worte waren untrennbar mit der Weissagung über Babylons Einnahme und Sturz verknüpft: PK 387.3
“Der zu Cyrus sagt: Mein Hirte! Er soll all meinen Willen vollenden und sagen zu Jerusalem: Werde wieder gebaut! und zum Tempel: Werde gegründet!” Jesaja 44,28. “Ich habe ihn erweckt in Gerechtigkeit, und alle seine Wege will ich eben machen. Er soll meine Stadt wieder aufbauen und meine Gefangenen loslassen, nicht um Geld und nicht um Geschenke, spricht der Herr Zebaoth.” Jesaja 45,13. PK 387.4
Doch dies waren nicht die einzigen Prophezeiungen, auf die die Verbannten ihre Hoffnung auf baldige Befreiung gründen konnten. Sie hatten Zugang zu den Schriften Jeremias, und in diesen war klar angegeben, wieviel Zeit bis zur Rückkehr Israels aus Babylon vergehen sollte. Der Herr hatte durch seinen Boten vorausgesagt: “Wenn aber die siebzig Jahre um sind, will ich heimsuchen den König von Babel und jenes Volk, spricht der Herr, um ihrer Missetat willen, dazu das Land der Chaldäer und will es zur ewigen Wüste machen.” Jeremia 25,12. Als Antwort auf inbrünstige Gebete sollte dem Überrest Judas Gunst erwiesen werden: “So will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.” Jeremia 29,14. PK 388.1
Oft hatten Daniel und seine Gefährten über diese und ähnliche Weissagungen, die Gottes Absicht mit seinem Volk beschrieben, nachgedacht. Und jetzt, wo der schnelle Gang der Ereignisse anzeigte, daß die mächtige Hand Gottes unter den Nationen am Wirken war, widmete Daniel den Verheißungen für Israel besondere Aufmerksamkeit. Sein Glaube an das prophetische Wort ließ ihn Erfahrungen machen, die von den geheiligten Schreibern vorausgesagt waren. Der Herr hatte erklärt: “So spricht der Herr: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.” Jeremia 29,10-13. PK 388.2
Als Daniel kurz vor dem Fall Babylons über diese Weissagungen nachdachte und Gott um Verständnis für die Zeitangaben bat, wurde ihm eine Reihe von Gesichten über den Aufstieg und Niedergang von Königreichen geschenkt. Zu dem ersten Gesicht, das im siebten Kapitel des Buches Daniel überliefert ist, wurde auch eine Deutung gegeben, doch wurde dem Propheten nicht alles erklärt. Über sein damaliges Erlebnis schrieb er: “Ich, Daniel, wurde sehr beunruhigt in meinen Gedanken, und jede Farbe war aus meinem Antlitz gewichen; doch behielt ich die Rede in meinem Herzen.” Daniel 7,28. PK 388.3
Eine weitere Vision warf noch mehr Licht auf die Ereignisse der Zukunft, und am Ende dieses Gesichtes hörte Daniel “einen Heiligen reden, und ein anderer sprach zu dem, der da redete: Wie lange gilt dieses Gesicht?” Die Antwort, die gegeben wurde, erfüllte Daniel mit Ratlosigkeit: “Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen vergangen sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.” Daniel 8,13-14. Mit allem Ernst forschte er nach der Bedeutung dieses Gesichtes. Er konnte nicht verstehen, welche Beziehung zwischen den siebzig Jahren der Gefangenschaft, die Jeremia vorausgesagt hatte, und den zweitausenddreihundert Jahren bestand. Diese sollten vergehen, hatte er den himmlischen Besucher im Gesicht sagen hören, ehe das Heiligtum Gottes “wieder geweiht” werde. Der Engel Gabriel deutete ihm das Gesicht teilweise. Doch als der Prophet die Worte hörte: “Es ist noch eine lange Zeit bis dahin”, wurde er ohnmächtig. “Ich, Daniel”, so berichtet er selbst, “war erschöpft und lag einige Tage krank. Danach stand ich auf und verrichtete meinen Dienst beim König. Und ich wunderte mich über das Gesicht, und niemand konnte es mir auslegen.” Daniel 8,26.27. PK 389.1
Weil Daniel sich Israels wegen immer noch bedrückt fühlte, studierte er nochmals die Weissagungen Jeremias. Sie waren sehr klar — so klar, daß er durch die “in den Büchern” überlieferten Zeugnisse Verständnis gewann für “die Zahl der Jahre, von denen der Herr geredet hatte zum Propheten Jeremia, daß nämlich Jerusalem siebzig Jahre wüst liegen sollte”. Daniel 9,2. PK 389.2
Mit einem Glauben, der sich auf das sichere Wort der Prophetie gründete, flehte Daniel den Herrn um die rasche Erfüllung dieser Verheißungen an. Er bat inständig, daß die Ehre Gottes bewahrt werden möge. In seinem Bittgebet stellte er sich völlig denen gleich, die dem göttlichen Plan nicht entsprochen hatten, und bekannte ihre Sünden, als seien es seine eigenen. PK 389.3
“Ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn”, erklärte der Prophet, “um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche. Ich betete aber zu dem Herrn, meinem Gott, und bekannte ...” Daniel 9,3.4. Obwohl Daniel schon lange im Dienst Gottes gestanden hatte und vom Himmel als “von Gott geliebt” (Daniel 9,23) bezeichnet wurde, erschien er doch jetzt vor Gott als ein Sünder, der die große Not des von ihm geliebten Volkes vortrug. Sein Gebet war in seiner Schlichtheit überzeugend und von einem starken Ernst. So lautete seine Bitte: PK 390.1
“Ach, Herr, du großer und heiliger Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Wir gehorchten nicht deinen Knechten, den Propheten, die in deinem Namen zu unsern Königen, Fürsten, Vätern und zu allem Volk des Landes redeten. PK 390.2
Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns alle heute schämen, die von Juda und von Jerusalem und vom ganzen Israel, die, die nahe sind, und die zerstreut sind in allen Ländern, wohin du sie verstoßen hast um ihrer Missetat willen, die sie an dir begangen haben ... PK 390.3
Bei dir aber, Herr, unser Gott, ist Barmherzigkeit und Vergebung. Denn wir sind abtrünnig geworden ... PK 390.4
Ach Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. PK 390.5
Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Laß leuchten dein Antlitz über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! Neige dein Ohr, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. PK 390.6
Ach Herr, höre! Ach Herr, sei gnädig! Ach Herr, merk auf! Tu es und säume nicht — um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk ist nach deinem Namen genannt.” Daniel 9,4-9.16-19. PK 390.7
Gott neigte sich herab und erhörte das ernste Flehen des Propheten. Noch ehe Daniel seine Bitte um Vergebung und um die Wiederherstellung Judas beendet hatte, erschien ihm erneut der mächtige Engel Gabriel und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Gesicht, das der Prophet vor dem Fall Babylons und dem Tod Belsazers gehabt hatte. Dann umriß ihm der Engel Einzelheiten der Zeitspanne der siebzig Wochen, die beginnen sollte, wenn “das Wort erging, Jerusalem werde wieder aufgebaut werden”. Daniel 9,25. PK 391.1
So hatte Daniel “im ersten Jahr des Darius” (Daniel 9,1) gebetet, des medischen Monarchen, dessen General Cyrus Babylon das Szepter der Weltherrschaft entrissen hatte. Die Regierung des Darius wurde von Gott gesegnet. Er sandte den Engel Gabriel zu ihm, “um ihm zu helfen und ihn zu stärken”. Daniel 11,1. Nach des Darius Tode, kaum zwei Jahre nach dem Fall Babylons, folgte Cyrus auf dem Thron, und der Anfang seiner Regierung bedeutete das Ende der siebzig Jahre, seitdem die ersten Hebräer von Nebukadnezar aus ihrer judäischen Heimat nach Babylon geführt worden waren. PK 391.2
Daniels Errettung aus der Löwengrube hatte Gott dazu benutzt, Cyrus den Großen günstig zu beeindrucken. Die hervorragenden Fähigkeiten des Gottesmannes als Staatsmann von Weitblick führten dazu, daß der persische Regent ihm Hochachtung zollte und sein Urteilsvermögen schätzte. Und nun, gerade zu der Zeit, in der Gott nach eigenen Worten seinen Tempel in Jerusalem wieder aufbauen lassen wollte, veranlaßte er Cyrus als sein Werkzeug, die Weissagungen, die sich auf ihn bezogen und mit denen Daniel bestens vertraut war, klar zu erfassen und dem jüdischen Volk die Freiheit zu schenken. PK 391.3
Der König erfuhr die Worte, die über hundert Jahre vor seiner Geburt vorhergesagt hatten, wie Babylon eingenommen werden sollte; er las die Botschaft, die der Herrscher des Weltalls an ihn richtete: “Ich habe dich gerüstet, obgleich du mich nicht kanntest, damit man erfahre in Ost und West, daß außer mir nichts ist.” Jesaja 45,5.6. Er sah die Aussage des ewigen Gottes vor sich: “Um Jakobs, meines Knechts, und um Israels, meines Auserwählten, willen, rief ich dich bei deinem Namen und gab dir Ehrennamen, obgleich du mich nicht kanntest.” Jesaja 45,4. Und er entdeckte das von Gott eingegebene Zeugnis: “Ich habe ihn erweckt in Gerechtigkeit, und alle seine Wege will ich eben machen. Er soll meine Stadt wieder aufbauen und meine Gefangenen loslassen, nicht um Geld und nicht um Geschenke.” Jesaja 45,13. Da wurde sein Herz tief bewegt, und er beschloß, seine göttlich verordnete Sendung zu erfüllen. Er war bereit, die jüdischen Gefangenen freizulassen und ihnen zu helfen, den Tempel des Herrn wieder aufzurichten. PK 391.4
In einer schriftlichen Verfügung, die Cyrus “in seinem ganzen Königreich” verkündigen ließ, gab er bekannt, daß er für die Rückkehr der Hebräer und den Wiederaufbau ihres Tempels sorgen wolle. In dieser öffentlichen Bekanntmachung bestätigte er dankbar: “Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben, und er hat mir befohlen, ihm ein Haus zu Jerusalem in Juda zu bauen. Wer nun unter euch von seinem Volk ist, mit dem sei sein Gott, und er ziehe hinauf nach Jerusalem in Juda und baue das Haus des Herrn, des Gottes Israels; das ist der Gott, der zu Jerusalem ist. Und wo auch immer einer übriggeblieben ist, dem sollen die Leute des Orts, an dem er als ein Fremdling gelebt hat, helfen mit Silber und Gold, Gut und Vieh außer dem, was sie aus freiem Willen für das Haus Gottes zu Jerusalem geben.” Esra 1,2-4. PK 392.1
Hinsichtlich des Tempelbaues befahl Cyrus, “das Haus Gottes in Jerusalem wieder aufzubauen als eine Stätte, an der man opfert, und seinen Grund zu legen: seine Höhe sechzig Ellen und seine Breite auch sechzig Ellen, und drei Schichten von behauenen Steinen und eine Schicht von Holz, und die Mittel sollen vom Hause des Königs gegeben werden. Auch soll man zurückgeben die goldenen und silbernen Geräte des Hauses Gottes, die Nebukadnezar aus dem Tempel zu Jerusalem weggenommen und nach Babel gebracht hat; man soll sie zurückbringen in den Tempel zu Jerusalem an ihre Stätte im Hause Gottes.” Esra 6,3-5. PK 392.2
Die Kunde von diesem Erlaß erreichte die entlegensten Provinzen des Königreiches, und überall herrschte große Freude unter den Kindern Israel in der Zerstreuung. Viele hatten wie Daniel die Weissagungen durchforscht und Gott gebeten, doch um Zions willen einzugreifen. Und nun wurden ihre Gebete erhört. Mit inniger Freude konnten sie gemeinsam singen: “Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.” Psalm 126,1-3. PK 392.3
“Da machten sich auf die Häupter der Sippen aus Juda und Benjamin und die Priester und Leviten, alle, deren Geist Gott erweckt hatte” — sie bildeten, etwa fünfzigtausend an Zahl, den stattlichen Überrest aus den Juden im Lande der Verbannung, der beschloß, die ihnen angebotene wunderbare Gelegenheit zu nutzen —, “um hinaufzuziehen und das Haus des Herrn zu Jerusalem zu bauen.” Esra 1,5. Ihre Freunde ließen es nicht zu, daß sie mit leeren Händen weggingen. “Und alle, die um sie her wohnten, halfen ihnen mit allem, mit Silber und Gold, mit Gut und Vieh und Kleinoden.” Diesen und vielen anderen freiwilligen Gaben wurden auch “die Geräte des Hauses des Herrn” hinzugefügt, “die Nebukadnezar aus Jerusalem genommen ... hatte. Und Cyrus, der König von Persien, übergab sie dem Schatzmeister Mithredath ... fünftausendvierhundert” an der Zahl. Esra 1,6-11. Sie sollten in dem wiederaufzubauenden Tempel Verwendung finden. PK 393.1
Dem Serubabel (auch als Scheschbazar bekannt), einem Nachkommen des Königs David, übertrug Cyrus die Verantwortung eines Statthalters über die nach Judäa zurückkehrende Menge; ihm war Josua, der Hohepriester, zugesellt. Die lange Reise durch öde Wüsten wurde sicher zurückgelegt, und die glückliche Schar, die Gott für seine vielen Wohltaten dankbar war, fing sofort an, das Niedergerissene und Zerstörte wiederaufzubauen. Die “Häupter der Sippen” spendeten als erste einen Teil ihres Vermögens, um die Ausgaben für die Wiedererrichtung des Tempels bestreiten zu helfen, und das Volk opferte, ihrem Beispiel folgend, aus freien Stücken von seinem kärglichen Besitz. Vgl. Esra 2,64-70. PK 393.2
So rasch wie möglich wurde ein Altar an der Stelle des früheren im Tempelvorhof errichtet. Zu den Feierlichkeiten, die mit seiner Einweihung verbunden waren, “versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann” (Esra 3,1), und es führte gemeinsam die heiligen Gottesdienste wieder ein, die zur Zeit der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar unterbrochen worden waren. Bevor die Juden voneinander schieden, um in ihren Heimen zu leben, versuchten sie, alles wiederherzustellen. “Und sie hielten das Laubhüttenfest.” Esra 3,4. PK 393.3
Die Aufstellung des Altars für das tägliche Brandopfer erfüllte die treuen Übriggebliebenen mit großer Freude. Mit ganzem Herzen gingen sie an die für den Wiederaufbau des Tempels notwendigen Vorbereitungen und faßten Mut, als diese von Monat zu Monat voranschritten. Viele Jahre lang hatten sie die sichtbaren Zeichen der Gegenwart Gottes entbehrt. Jetzt, wo sie von vielen traurigen Erinnerungen an den Abfall ihrer Väter umgeben waren, sehnten sie sich nach einem dauernden Zeichen göttlicher Vergebung und Gunst. Höher als die Zurückgewinnung persönlichen Besitzes und früherer Vorrechte schätzten sie die Zustimmung Gottes ein. Erstaunlich hatte er zu ihren Gunsten gewirkt, und sie empfanden die Gewißheit seiner Gegenwart. Doch sie wünschten sich noch größere Segnungen. Mit froher Erwartung sahen sie der Zeit entgegen, in der der Tempel wieder aufgebaut wäre und in der sie sehen könnten, wie Gottes Herrlichkeit aus seinem Innern erstrahlte. PK 393.4
Die Arbeiter, die mit der Zubereitung des Baumaterials beschäftigt waren, fanden unter den Ruinen einige der gewaltigen Steine, die in den Tagen Salomos zum Tempelbauplatz gebracht worden waren. Diese machte man gebrauchsfertig und beschaffte auch viel neues Material. Bald waren die Arbeiten so weit gediehen, daß der Grundstein gelegt wurde. Dies geschah in Gegenwart von vielen Tausenden, die sich versammelt hatten, um den Fortschritt des Werkes mit eigenen Augen zu sehen und die Freude über ihren Anteil zu bekunden. PK 394.1
Während der Grundstein eingesetzt wurde, stimmten die vielen Anwesenden, begleitet von den Trompeten der Priester und den Zimbeln der Söhne Asaphs, “den Lobpreis an und dankten dem Herrn: Denn er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewiglich über Israel.” Esra 3,11. PK 394.2
Das Gebäude, das nun wiederaufgebaut werden sollte, war Inhalt vieler Weissagungen gewesen. Sie betrafen die Gunst, die Gott Zion erweisen wollte. Alle, die an der Grundsteinlegung teilnahmen, hätten von ganzem Herzen die Freude eines solchen Anlasses teilen sollen. Doch in die Musik und die Lobrufe, die man an jenem frohen Tag vernahm, mischte sich ein Mißton. “Viele von den betagten Priestern, Leviten und Sippenhäuptern, die das frühere Haus noch gesehen hatten, weinten laut, als nun dies Haus vor ihren Augen gegründet wurde.” Esra 3,12. PK 394.3
Es war verständlich, daß Traurigkeit die Herzen dieser betagten Männer erfüllte, als sie an die Folgen ihrer lange währenden Unbußfertigkeit dachten. Wenn sie und ihre Zeitgenossen Gott gehorcht und seine Absicht mit Israel ausgeführt hätten, wäre der von Salomo erbaute Tempel nicht zerstört worden und die Gefangenschaft wäre nicht notwendig gewesen. Wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue waren sie jedoch unter die Heiden zerstreut worden. PK 394.4
Jetzt hatten sich die Verhältnisse geändert. In gütiger Barmherzigkeit hatte sich der Herr seinem Volk wieder genaht und ihm die Rückkehr in die Heimat gestattet. Die Traurigkeit über die Fehler der Vergangenheit hätte jetzt dem Gefühl großer Freude weichen müssen. Gott hatte das Herz des Cyrus bewegt, so daß er ihnen beim Wiederaufbau half. Das hätte zu Äußerungen tiefer Dankbarkeit führen sollen. [Der folgende Satz fehlt in der deutschen Übersetzung und ist nach dem englischen Original zitiert.] Aber einige erkannten die sich öffnenden Vorsehungen Gottes nicht. Statt sich zu freuen, hingen sie unzufriedenen und mutlosen Gedanken nach. Sie hatten den Glanz des Salomonischen Tempels gesehen und jammerten über den geringeren Wert des Gebäudes, das jetzt errichtet werden sollte. PK 395.1
Das Murren und Klagen sowie die ungünstigen Vergleiche, die man zog, drückten viele Gemüter nieder und schwächten die Arme der Erbauer. Die Arbeiter wurden zu der Frage veranlaßt, ob sie an einem Gebäude weiterbauen sollten, das schon am Anfang so offen bemängelt wurde und Anlaß zu so vielen Klagen bot. PK 395.2
Es gab jedoch auch viele in der Versammlung, deren stärkerer Glaube und größerer Weitblick sie davor bewahrte, diesen geringeren Glanz unzufrieden zu beurteilen. “Viele aber jauchzten mit Freuden, so daß das Geschrei laut erscholl. Und man konnte das Jauchzen mit Freuden und das laute Weinen im Volk nicht unterscheiden; denn das Volk jauchzte laut, so daß man den Schall weithin hörte.” Esra 3,12.13. PK 395.3
Hätten jene, die sich bei der Grundsteinlegung des Tempels nicht freuen konnten, an jenem Tag die Folgen ihres Glaubensmangels vorausgesehen, wären sie entsetzt gewesen. Ihnen wurde nicht bewußt, wie schwer ihre mißbilligenden und enttäuschten Worte wogen; sie ahnten kaum, wie weit die Bekundung ihrer Unzufriedenheit die Vollendung des Gotteshauses hinauszögern würde. PK 395.4
Die Pracht des ersten Tempels und die eindrucksvollen Riten seiner Gottesdienste waren für Israel vor der Gefangenschaft eine Ursache des Stolzes gewesen. Doch seinem Kult hatte oft gerade das gefehlt, was Gott als wesentlichsten Gehalt betrachtete. Die Herrlichkeit des ersten Tempels, der Glanz der gottesdienstlichen Handlungen konnten Israel vor Gott nicht angenehm machen, denn es opferte ihm nicht das, was in seinen Augen allein wertvoll ist. Es brachte ihm nicht das Opfer eines demütigen und reuigen Geistes. PK 395.5
Verliert man die wesentlichen Grundregeln des Reiches Gottes aus den Augen, dann mögen die festlichen Handlungen immer zahlreicher und verschwenderischer werden. Wenn dabei die Charakterbildung vernachlässigt wird, es an Zierde des Herzens fehlt und die schlichte Frömmigkeit auf Verachtung stößt, fordern Stolz und Prunksucht prächtige Kirchenbauten, glänzende Verzierungen und eindrucksvolle Feierlichkeiten. Mit all dem wird Gott jedoch nicht geehrt. Er schätzt seine Gemeinde nicht wegen äußerer Vorzüge, sondern wegen der aufrichtigen Frömmigkeit, die sie von der Welt unterscheidet. Er beurteilt sie nach dem Wachstum ihrer Glieder in der Erkenntnis Christi und nach ihrem Fortschritt in der geistlichen Erfahrung. Er sucht bei ihr die Grundsätze der Liebe und Güte. Alle Schönheit der Kunst kann den Vergleich nicht aushalten mit der Schönheit im Wesen und Charakter derer, die Christus vertreten. PK 396.1
Eine Gemeinde mag die ärmste im Lande sein, und ihr mag das Verlockende äußeren Schaugepränges fehlen: wenn ihre Glieder die Grundsätze des Charakters Christi besitzen, werden sich Engel an ihren Gottesdiensten beteiligen. Das Lob und die Danksagung aus dankbaren Herzen wird als angenehme Opfergabe zu Gott emporsteigen. PK 396.2
“Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. So sollen sagen, die erlöst sind durch den Herrn, die er aus der Not erlöst hat.” Psalm 107,1.2. PK 396.3
“Singet uns spielet ihm, redet von allen seinen Wundern! Rühmet seinen heiligen Namen; es freue sich das Herz derer, die den Herrn suchen!” Psalm 105,2.3. PK 396.4
“Sie sollen dem Herrn danken ..., daß er die lechzende Seele gesättigt und die hungrige Seele mit Gutem gelabt hat.” Psalm 107,9 (Zürcher). PK 396.5