Wir können das Thema Abstinenz erst dann richtig verstehen, wenn wir es vom Standpunkt der Bibel her betrachten. Und nirgends finden wir eine ausführlichere und beeindruckendere Illustration für Abstinenz und Mäßigkeit und die daraus folgenden Vorteile, als in der Geschichte des Propheten Daniel und seiner Freunde am Königshof von Babylon. The Signs of the Times, 6. Dezember 1910. TH 166.2
Als das Volk Israel mit ihrem König, den Adeligen und Priestern in die Gefangenschaft verschleppt wurde, wählte man vier von ihnen für den Dienst am Königshof von Babylon aus. Einer dieser Männer war Daniel, bei dem jene Fähigkeiten, die er später entwickelte, schon früh erkennbar waren. Diese jungen Leute stammten alle aus Fürstenhäusern und wurden beschrieben als “gesund, gut aussehend, klug und verständig, umfassend gebildet, damit sie zum Dienst im Palast geeignet wären” (vgl. Daniel 1,4, GN). TH 166.3
König Nebukadnezar nahm die außergewöhnlichen Talente dieser jungen Gefangenen wahr und beschloß, ihnen in seinem Reich wichtige Positionen einzuräumen. Damit sie für das Leben am Hof, wie es im Orient Sitte war, voll und ganz qualifiziert waren, mußten sie die Sprache der Chaldäer erlernen und sich drei Jahre lang einer gründliche Schulung in körperlichen und geistigen Disziplinen unterziehen. TH 166.4
Die jungen Leute, die an dieser Ausbildung teilnahmen, wurden nicht nur im Königspalast untergebracht, sondern sie sollten auch von den Fleischgerichten essen und von den Weinen trinken, die von der Tafel des Königs kamen. Dadurch meinte der König, ihnen eine große Ehre zu erweisen. Gleichzeitig wollte er sicherstellen, daß sie sich körperlich und geistig optimal entwickeln konnten. TH 166.5
Unter den Gerichten, die man dem König vorsetzte, war Schweinefleisch und anderes, was nach dem Gesetz Moses als unrein galt, und dessen Genuß den Hebräern ausdrücklich verboten war. Das stellte Daniel auf eine harte Probe. Sollte er an den Lehren seiner Vorväter bezüglich Fleisch und Getränken festhalten und den König dadurch beleidigen? Das konnte ihn nicht nur seine Stellung, sondern sogar sein Leben kosten. Oder sollte er das Gebot Gottes mißachten und dafür die Gunst des Königs erringen? Davon konnte er sich große Vorteile für seine Ausbildung erhoffen und vielleicht eine großartige weltliche Karriere sichern. TH 167.1
Daniel zögerte nicht lange. Er beschloß, fest zu bleiben, sich selber treu, was immer dabei herauskommen würde. Er “nahm sich in seinem Herzen vor, daß er sich mit des Königs Speisen und mit seinem Wein nicht verunreinigen wollte”. Daniel 1,8. TH 167.2
Viele unter den sogenannten Christen von heute würden meinen, daß Daniel es hier zu genau genommen habe und würden sein Verhalten als eng oder fanatisch bezeichnen. Sie meinen, daß man dem Thema Essen und Trinken nicht so viel Bedeutung beizumessen braucht, um einen solch entschiedenen Standpunkt zu vertreten, der einen letztlich alle irdischen Vorteile kosten könnte. Doch wer so argumentiert, wird am Gerichtstag feststellen, daß er seine eigene Meinung zum Maßstab genommen und sich von Gottes ausdrücklichen Forderungen abgewandt hat. TH 167.3
Er wird entdecken, daß das, was ihm so unwichtig erschien, in den Augen Gottes anders gewertet wird. Seine Forderungen sollten mit heiligem Ernst erfüllt werden. Wer seine Lebensregeln nur dann akzeptiert und befolgt, wenn sie ihm angenehm sind, andere aber übertritt, weil ihre Beachtung ein Opfer erfordern würde, verringert dadurch das Verständnis für Recht und Unrecht und verführt durch sein Beispiel andere dazu, das heilige Gesetz Gottes auf die leichte Schulter zu nehmen. TH 167.4
Unsere Regel in allen Dingen sollte heißen: “So spricht der Herr!” TH 168.1
Daniel war den schwersten Versuchungen ausgesetzt, die auch unsere heutige Jugend bedrängen können. Doch blieb er den religiösen Anweisungen, die er im Laufe seiner frühen Lebensjahre erhalten hatte, treu. Er war von Einflüssen umgeben, die darauf ausgerichtet waren, Wankelmütige, die sich zwischen Grundsatz und Neigung nicht entscheiden konnten, von Gott abzuwenden. TH 168.2
Das Wort Gottes schildert Daniel jedoch als einen tadellosen Menschen. Daniel vertraute nicht auf seine eigene Charakterstärke. Das Gebet war lebenswichtig für ihn. Gott war seine Stärke, und alle Entscheidungen seines Lebens traf er in der Furcht Gottes. TH 168.3
Daniel besaß die Gabe der echten Bescheidenheit. Er war treu und fest und hatte ein vornehmes Wesen. Er bemühte sich darum, mit allen gut auszukommen, blieb aber unbeugsam wie eine Zeder, wenn es um seine Grundsätze ging. TH 168.4
In allen Angelegenheiten, die nicht im Widerspruch zu seiner Treue gegenüber Gott standen, verhielt er sich respektvoll und gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten. Aber die Forderungen Gottes waren ihm so wichtig, daß er ihnen die Gesetze irdischer Herrscher in jedem Fall unterordnete, und keine egoistische Überlegung konnte ihn von seiner Pflicht abhalten. TH 168.5
Der Charakter Daniels ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, was Gottes Gnade aus gefallenen Menschen, die durch die Sünde verdorben sind, machen kann. Die Geschichte seines wertvollen und selbstlosen Lebens ist eine Ermutigung für uns in all unserer Menschlichkeit. TH 168.6
Wir können daraus Kraft schöpfen, um der Versuchung tapfer und fest zu widerstehen und mit Gottes Gnade in Demut und Bescheidenheit auch unter den schwersten Prüfungen für das Recht einzutreten. TH 168.7
Daniel hätte einleuchtende Entschuldigungen finden können, um von seinem disziplinierten Lebensstil abzuweichen, aber das Wohlwollen Gottes war ihm wertvoller als die Gunst des damals mächtigsten Herrschers auf Erden, ja, sogar wertvoller als sein Leben. TH 169.1
Durch seine Höflichkeit hatte er die Sympathie des Hofbeamten Melzar gewonnen, der für die hebräischen Jugendlichen verantwortlich war. Nun bat Daniel darum, daß sie das Fleisch von der königlichen Tafel nicht essen und den Wein nicht trinken mußten. Melzar fürchtete, er könne, wenn er dieser Bitte nachgab, beim König in Ungnade fallen. Das hätte ihn sein Leben kosten können. TH 169.2
Wie viele Menschen von heute dachte er, daß junge Leute bei so bescheidener Kost blaß und krank aussehen würden und schlaffe Muskeln bekämen, während das üppige Essen von der Tafel des Königs sie gesund und schön aussehen lassen sowie ihre körperliche und geistige Aktivität steigern würde. TH 169.3
Daniel bat darum, daß diese Angelegenheit nach einer Probezeit von zehn Tagen entschieden werden sollte. In dieser Zeit sollten die jungen Hebräer einfache Nahrung essen dürfen, während ihre Gefährten mit den Leckerbissen des Königs ernährt wurden. Diese Bitte wurde ihm schließlich gewährt, und Daniel war zuversichtlich, daß er seinen Fall gewonnen hatte. Obwohl er noch so jung war, hatte er doch schon beobachtet, wie schädlich sich Wein und eine zu üppige Ernährungsweise auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirken. TH 169.4
Am Ende der zehn Tage war genau das Gegenteil von dem eingetreten, was Melzar befürchtet hatte. Die vier jungen Menschen, die maßvolle Essensgewohnheiten beibehalten hatten, sahen nicht nur besser aus als die anderen, die ihrer Eßlust nachgegeben hatten; sie waren auch körperlich und geistig stärker — ihren Kameraden deutlich überlegen. TH 169.5
Als Ergebnis dieses Tests durften Daniel und seine Freunde während ihrer gesamten Ausbildungszeit für den Hofdienst ihre einfache Kost beibehalten. TH 169.6
Der Herr beobachtete die Konsequenz und Selbstverleugnung dieser jungen Hebräer mit Freude. Sein Segen begleitete sie. Er gab ihnen “Klugheit und Verstand, daß sie alles begriffen und sich bald in jedem Wissensgebiet auskannten. Daniel besaß darüber hinaus die Fähigkeit, Träume und Visionen zu verstehen und zu deuten”. Daniel 1,17 (GN). TH 170.1
Nach dem Abschluß ihrer dreijährigen Ausbildung wurden sie vom König auf ihre Leistungen und Fähigkeiten geprüft. Und in allen Wissens- und Verständnisfragen befand er sie zehnmal klüger als sämtliche Magier und Astrologen in seinem Land. TH 170.2
Die Lebensgeschichte Daniels ist eine inspirierte Illustration eines geheiligten Lebens. Alle können daraus lernen, und ganz besonders junge Leute. Ein konsequenter Umgang mit den Forderungen Gottes kann für die körperliche und geistige Gesundheit nur von Vorteil sein. Um seelisch und intellektuell die größtmögliche Reife zu erreichen, muß man von Gott Weisheit und Kraft erbitten und gleichzeitig konsequent, maßvoll und ausgewogen leben. TH 170.3
Die Erfahrung Daniels und seiner Gefährten ist ein Beispiel für den Sieg der Grundsatztreue über die Versuchung durch die Genußsucht. Das zeigt uns, daß junge Leute durch ihr Festhalten an religiösen Prinzipien über die “Lust des Fleisches” siegen und den Forderungen Gottes treu bleiben können, auch wenn dies große Opfer kostet. TH 170.4
Was wäre geschehen, wenn Daniel und seine Freunde einen Kompromiß mit dem heidnischen Beamten geschlossen, dem Druck der Situation nachgegeben und gegessen und getrunken hätten, was bei den Babyloniern üblich war? Dieses einmalige Abweichen von ihren Grundsätzen hätte ihr Bewußtsein für das Richtige und ihren Abscheu vor dem Unrechten verringert. Ihre Nachgiebigkeit gegenüber der Eßlust hätte sie körperlich geschwächt, ihren klaren Verstand getrübt und ihre geistliche Kraft beeinträchtigt. Ein falscher Schritt hätte wahrscheinlich andere nach sich gezogen, ihre Verbindung mit dem Himmel wäre immer schwächer geworden, und irgendwann hätte die Versuchung sie mit sich fortgerissen. TH 170.5
Gott hat gesagt: “Ich werde alle ehren, die mich ehren.” Während Daniel mit unwandelbarem Vertrauen an seinem Gott festhielt, kam der Geist der Prophetie über ihn. Er wurde von Menschen in die Pflichten des Hoflebens eingeführt, doch gleichzeitig wurde er von Gott gelehrt, die Geheimnisse der Zukunft zu lesen und den kommenden Generationen durch Symbole und Bilder die wunderbaren Ereignisse zu schildern, die in den letzten Tagen geschehen sollten. The Sanctified Life 15-19. TH 171.1
Die jugendlichen Hebräer ... handelten nicht vermessen, sondern in festem Vertrauen auf Gott. Sie wollten keine Sonderlinge sein, aber lieber als solche gelten, als Gott zu entehren. Propheten und Könige 338. TH 171.2
Die hebräischen Gefangenen hatten die gleichen menschlichen Schwächen wie wir, und doch blieben sie inmitten der verführerischen Einflüsse des luxuriösen babylonischen Hofes standhaft. TH 171.3
Die heutige Jugend lebt ebenfalls in einer Umwelt, die sie dazu verlockt, den eigenen Wünschen den Vorrang zu geben. Besonders in den großen Städten wird jede Form der Sinnbefriedigung, jede Art von Lustgewinn an sie herangetragen und scheint sehr leicht erreichbar und attraktiv. Doch wer sich wie Daniel weigert, sich durch diese Dinge verunreinigen zu lassen, wird die Früchte seiner Selbstbeherrschung ernten. Er besitzt mehr Körperkraft und Ausdauer und verfügt dadurch über ein Reservekonto, von dem er im Notfall abheben kann. TH 171.4
Richtige Lebensgewohnheiten fördern die geistige Überlegenheit. Verstandeskraft, körperliche Ausdauer und ein verlängertes Leben sind von unveränderlichen Gesetzen abhängig. Der Gott der Natur wird nicht eingreifen, um den Menschen die Konsequenzen zu ersparen, die sie durch die Übertretung der Naturgesetze selbst auf sich gezogen haben. TH 171.5
Wer hervorragende Leistungen erreichen will, muß sich zuerst selbst beherrschen können und in allem maßvoll sein. Daniels klarer Verstand, seine Entschlossenheit, sein Forscherdrang und seine Kraft, den Versuchungen zu widerstehen, waren zum großen Teil auf seine einfache Kost zurückzuführen, verbunden mit seinem Leben des Gebets. TH 171.6
Es liegt viel Weisheit in dem Sprichwort “Jeder ist seines Glückes Schmied”. Eltern sind zwar weitgehend für die Prägung des Charakters sowie für ihre Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder verantwortlich, aber trotzdem hängt es weitgehend von unseren ganz persönlichen Entscheidungen ab, welchen Platz wir in dieser Welt einnehmen und wie brauchbar wir sind. Daniel und seine Freunde genossen die Vorzüge einer richtigen Erziehung und guten Ausbildung in ihrer Kindheit. Doch dieser Vorteil allein hätte sie noch nicht zu dem gemacht, was sie schließlich waren. TH 172.1
Die Zeit kam, wo sie selbständig handeln mußten und ihre Zukunft von ihren eigenen Entscheidungen abhing. Und sie entschieden sich, treu zu dem zu stehen, was sie in der Kindheit gelernt hatten. Die Achtung vor Gott — der Anfang aller Weisheit — war die Grundlage ihrer Größe. The Youth’s Instructor, 9. Juli 1903. TH 172.2