“Den Heiligen erkennen ist Verstand”
“Befreunde dich doch mit ihm.”
Unsere Vorstellungen über Erziehung bewegen sich in einem zu engen und niederen Bereich. Wir bedürfen eines weiteren Gesichtskreises, einer höheren Zielsetzung. Wahre Erziehung heißt mehr als ein gewisses Studium verfolgen. Sie bedeutet Höheres als sich für das jetzige Leben vorbereiten. Mit der gesamten Wesenheit des Menschen befaßt sie sich und mit der ganzen Dauer des ihm ermöglichten Daseins. Sie besteht in der harmonischen Entwicklung seiner körperlichen, geistigen und geistlichen Kräfte. Sie bereitet den Lernenden für ein freudiges Dienen in dieser Welt und für die höhere Freude eines umfassenderen Dienstes in der zukünftigen vor. Ez54 11.1
Die Quelle einer solchen Erziehung wird sichtbar in den Worten der Heiligen Schrift, die auf den Unendlichen hinweisen, “in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit”. Kolosser 2,3. “Bei ihm ist ... Rat und Verstand.” Hiob 12,13. Ez54 11.2
Die Welt hat ihre großen Lehrmeister gehabt, Männer von überragendem Verstand, die ausgedehnte Forschungen betrieben, Männer, deren Aussprüche das Denken anregten und dem Blicke weite Wissensgebiete erschlossen. Diese Menschen hat man als Führer und Wohltäter ihrer Zeit geehrt; aber es gibt Einen, der höher steht als sie. Wir können die Reihe der Lehrer der Welt so weit zurückverfolgen, wie menschliche Berichte reichen: das göttliche Licht war vor ihnen da. Der Mond und die Sterne unseres Sonnensystems erhalten ihren Schein durch Zurückwerfung des Sonnenlichtes. Ebenso spiegeln sich in den Denkern der Erde, sofern ihre Lehren richtig sind, die Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit. Jeder Gedankenschimmer, jeder Geistesblitz stammt von dem Lichte der Welt. Ez54 11.3
Heutzutage redet man viel über Wesen und Wichtigkeit “höherer Bildung”. Wahre “höhere Bildung” wird nur durch den vermittelt, bei dem “ist Weisheit und Stärke” (Hiob 12,13), aus dessen “Munde kommt Erkenntnis und Verstand”. Sprüche 2,6. Ez54 12.1
In dem Wissen um Gott hat alle wahre Erkenntnis und echte Entwicklung ihren Ursprung. Wo immer wir uns hinwenden, sei es im körperlichen, geistigen oder geistlichen Bereich, was immer wir auch erblicken abgesehen von den verderblichen Auswirkungen der Sünde, überall tritt uns diese Erkenntnis entgegen. Welchen Pfad der Forschung wir auch immer mit der ernsten Absicht verfolgen, zur Wahrheit zu gelangen wir kommen mit dem unsichtbaren, mächtigen Geist in Berührung, der in allem und durch alles wirkt. Der menschliche Geist kommt in Verbindung mit dem göttlichen, der endliche mit dem unendlichen. Die Auswirkung solcher Gemeinschaft auf Leib, Seele und Geist ist nicht abzuschätzen. Ez54 12.2
In diesem Umgang mit Gott besteht die höchste Erziehung. Es handelt sich um Gottes eigene Entwicklungsmethode. “Befreunde dich doch mit ihm” (Hiob 22,21, Schlachter), lautet seine Botschaft an die Menschheit. Die in diesen Worten umrissene Methode wurde bei der Erziehung des Stammvaters der Menschheit angewandt. Als Adam in der herrlichen Würde der sündlosen menschlichen Natur im heiligen Eden weilte, belehrte ihn Gott auf solche Weise. Ez54 12.3
Um zu verstehen, was das Werk der Erziehung umfaßt, müssen wir uns sowohl die Natur des Menschen als auch die göttliche Absicht bei seiner Erschaffung vor Augen halten. Ebenso gilt es, den Wandel in den Verhältnissen des Menschen, den eine Erkenntnis des Bösen mit sich brachte, zu erwägen, samt dem Plane Gottes, seine herrliche Absicht in der Erziehung des Menschengeschlechtes doch noch zu verwirklichen. Ez54 12.4
Als Adam aus des Schöpfers Hand hervorging, wies er an Leib, Seele und Geist eine Ähnlichkeit mit seinem Bildner auf. “Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde” (1.Mose 1,27), und es war seine Absicht, daß der Mensch, je länger er lebte, desto völliger dieses Bild offenbaren, desto vollkommener die Herrlichkeit des Schöpfers widerspiegeln sollte. Alle seine Anlagen waren entwicklungsfähig; ihr Umfang und ihre Stärke sollten ständig zunehmen. Unermeßlich war das Feld, das sich ihrer Betätigung bot, herrlich das Gebiet, das ihrem Forschen offenstand. Die Geheimnisse des sichtbaren Alls — “die Wunder des, der vollkommen ist an Wissen” — (Hiob 37,16) luden den Menschen zum Studium ein. Es war für ihn ein hohes Gnadengeschenk, von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz mit seinem Schöpfer zu verkehren. Hätte er Gott die Treue gehalten, — all dies wäre für immer sein gewesen. Unendliche Zeiträume hindurch hätte er stets neue Schätze der Erkenntnis erworben und immer klarere Vorstellungen von der Weisheit, Macht und Liebe Gottes gewonnen. Immer vollkommener hätte er seinen Daseinszweck erfüllt, in stets vollendeterem Maße die Herrlichkeit des Schöpfers widergestrahlt. Ez54 12.5
Aber dies wurde durch Ungehorsam verscherzt. Die Gottähnlichkeit wurde durch die Sünde zerstört und nahezu ausgelöscht. Die körperlichen Kräfte des Menschen wurden geschwächt, sein geistiges Fassungsvermögen verringert und sein geistliches Auge verdunkelt. Er war dem Tode verfallen, doch wurde das Menschengeschlecht nicht ohne Hoffnung gelassen. In unendlicher Liebe und Barmherzigkeit war der Plan zur Erlösung gefaßt worden; ein Leben der Bewährung wurde zugestanden. Es sollte das Werk der Erlösung sein, im Menschen das Bild seines Schöpfers wiederherzustellen, ihn zu der Vollkommenheit zurückzuführen, in der er geschaffen war. Sie sollte die Entwicklung von Leib, Seele und Geist fördern, damit die göttliche Absicht, die bei seiner Erschaffung gewaltet hatte, verwirklicht werden könnte. Dies ist auch der Zweck der Erziehung, das große Ziel des Lebens. Ez54 13.1
Liebe, die Grundlage von Schöpfung und Erlösung, ist auch die Grundlage wahrer Erziehung. Dies wird in dem Gesetz verdeutlicht, das Gott uns als Richtschnur fürs Leben gegeben hat. Das erste und größte Gebot lautet: “Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte.” Lukas 10,27. Ihn, den Unendlichen, Allwissenden, von ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften zu lieben, bedeutet die höchste Entfaltung jeglicher Anlage, heißt, daß im ganzen Wesen an Leib, Geist und Seele das Bild Gottes wiederhergestellt werden soll. Ez54 13.2
Das zweite Gebot ist dem ersten gleich: “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” Matthäus 22,39. Das Gesetz der Liebe fordert, Leib, Seele und Geist dem Dienst an Gott und an unseren Mitmenschen zu weihen. Und während wir durch solch einen Dienst anderen zum Segen werden, bringt er uns selbst den größten Gewinn. Selbstlosigkeit liegt aller echten Entwicklung zugrunde. Durch selbstlosen Dienst bilden wir jede Fähigkeit aufs edelste aus. Wir werden dadurch wirklich immer mehr der göttlichen Natur teilhaftig. Wir werden geschickt für den Himmel, denn wir nehmen ihn in unsere Herzen auf. Ez54 14.1
Da ja Gott die Quelle aller wahren Erkenntnis ist, soll es, wie wir gesehen haben, das erste Anliegen der Erziehung sein, unsere Gedanken auf die Offenbarung seines Wesens zu richten. Adam und Eva empfingen Wissen durch unmittelbaren Verkehr mit Gott; sie lernten auch durch seine Werke von ihm. Alles Erschaffene war in seiner ursprünglichen Vollkommenheit ein Ausdruck der Gedanken Gottes. Für Adam und Eva barg die Natur eine Fülle göttlicher Weisheit. Seine Übertretung jedoch schnitt den Menschen von der Möglichkeit ab, Gott durch unmittelbaren Umgang und bis zu einem hohen Grade auch durch seine Werke zu erkennen. Die durch die Sünde verderbte und verunreinigte Erde spiegelt die Herrlichkeit des Schöpfers nur unklar wider. Zwar ist er mit seinem Anschauungsunterricht keineswegs zu Ende: auf jeder Seite des großen Schöpfungsbuches finden wir noch die Spuren seiner Hand. Noch kündet die Natur von ihrem Schöpfer, doch sind diese Offenbarungen nur Stückwerk und unvollkommen. Wir sind in unserem gefallenen Zustand, mit geschwächten Kräften und beschränkter Sicht, außerstande, sie richtig zu deuten. Wir bedürfen der völligeren Offenbarung des Wesens Gottes, die er in seinem geschriebenen Wort gegeben hat. Ez54 14.2
Die Heilige Schrift stellt die vollkommene Wahrheitsnorm dar, und als solcher sollte man ihr den höchsten Platz in der Erziehung einräumen. Um eine Bildung zu erlangen, die diese Bezeichnung verdient, müssen wir Gott, den Schöpfer, und Christus, den Erlöser, so erkennen, wie sie in der Heiligen Schrift offenbart sind. Ez54 14.3
Jedes nach dem Bilde Gottes erschaffene Menschenwesen wird mit einem Vermögen ausgestattet, das dem des Schöpfers verwandt ist: mit persönlicher Eigenart, mit der Kraft zu denken und zu handeln. Die Menschen, in denen diese Anlage entwickelt ist, sind es, die Verantwortung tragen, die in Unternehmungen an der Spitze stehen und die den Charakter beeinflussen. Es ist die Aufgabe wahrer Erziehung, dieses Vermögen zu entwickeln: die Jugend zu selbständig denkenden Menschen heranzubilden und nicht zu Nachplapperern fremder Gedanken. Man weise die Schüler auf die Quellen der Wahrheit hin, auf die weiten Gebiete, die sich in Natur und Offenbarung der Forschung auftun, statt ihr Studium auf das zu beschränken, was Menschen gesagt oder geschrieben haben. Man lasse sie über die großen Gegebenheiten Pflicht und Bestimmung nachsinnen so wird ihr Verstand sich ausweiten und kräftigen. Statt gelehrter Schwächlinge können die Lehranstalten dann Männer ins Leben hinaussenden, die selbständig denken und handeln können, Männer, die Meister und nicht Sklaven der Verhältnisse sind, Männer, die sich durch Weite des Gesichtskreises und Klarheit des Denkens auszeichnen und den Mut der eigenen Überzeugung besitzen. Ez54 15.1
Eine solche Erziehung bewirkt mehr als geistige Zucht, mehr als körperliche Ertüchtigung. Sie festigt den Charakter, so daß Wahrhaftigkeit und aufrechtes Wesen nicht selbstischen Wünschen oder weltlichem Ehrgeiz aufgeopfert werden. Sie ist für die Seele ein Bollwerk gegen das Böse. Statt daß irgendeine beherrschende Leidenschaft zur zerstörenden Macht heranwächst, werden alle Beweggründe und Wünsche mit den großen Grundsätzen des Rechtes in Einklang gebracht. Wenn die Gedanken bei der Erhabenheit des göttlichen Charakters verweilen, erneuert sich der Geist, und die Seele wird wieder in das Ebenbild Gottes verwandelt. Ez54 15.2
Welche Erziehung kann höher stehen als diese? Was kommt ihr an Wert gleich? Ez54 16.1
“Man kann nicht Gold um sie geben,
Noch Silber darwägen, sie zu bezahlen.
Es gilt ihr nicht gleich ophirisch Gold
Oder köstlicher Onyx und Saphir.
Gold und Glas kann man ihr nicht vergleichen,
Noch um sie golden Kleinod wechseln.
Korallen und Kristall achtet man gegen sie nicht.
Die Weisheit ist höher zu wägen denn Perlen.” Hiob 28,15-18. Ez54 16.2
Höher, als der höchste menschliche Gedanke sich erheben kann, steht Gottes Ideal für seine Kinder. Göttlichkeit Gottähnlichkeit ist das zu erreichende Ziel. Vor dem Lernenden liegt eine Bahn beständigen Wachstums. Er hat ein Ziel zu erreichen, auf eine Stufe zu gelangen, die alles Gute, Reine und Edle in sich schließt. Er wird in jedem Zweig wahrer Erkenntnis so schnell und so weit wie möglich vorankommen. Aber seine Bemühungen werden sich auf Dinge richten, die so sehr über selbstsüchtige und irdische Interessen erhaben sind, als der Himmel höher ist denn die Erde. Ez54 16.3
Wer mit den göttlichen Absichten zusammenwirkt, indem er der Jugend eine Erkenntnis vermittelt und ihren Charakter auf den des Höchsten abstimmt, tut ein großes und edles Werk. Wenn er ein Verlangen erweckt, das göttliche Ideal zu erreichen, dann bietet er eine Erziehung dar, die so hoch wie der Himmel und so umfassend wie das Weltall ist, eine Ausbildung, die in diesem Leben nicht vollendet werden kann, sondern im zukünftigen fortgesetzt wird. Es ist eine Erziehung, die dem erfolgreichen Schüler das Zeugnis der irdischen Vorbereitungsanstalt zum Aufrücken in die höhere Stufe, die Schule der oberen Welt, sichert. Ez54 16.4