“Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen,
die du mir von der Welt gegeben hast.”
Ihre vollendetste Darstellung finden die Lehrmethoden Christi in der Art, wie er seine ersten zwölf Jünger erzog. Auf diesen Männern sollten einmal schwere Verantwortungen ruhen. Er hatte sie erwählt als Menschen, die er mit seinem Geist durchdringen konnte, die die Fähigkeit erlangen mochten, sein Werk auf Erden weiterzuführen, wenn er es verlassen mußte. Vor allen andern gewährte er ihnen die Gnade, sich in seiner Gesellschaft zu bewegen. Er prägte diesen erwählten Mitarbeitern sein Bild durch persönlichen Umgang ins Herz. “Das Leben ist erschienen”, schreibt der Lieblingsjünger Johannes, “und wir haben gesehen und bezeugen ...” 1.Johannes 1,2. Ez54 77.3
Allein solche Geistes und Herzensgemeinschaft — die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen — kann jene belebende Kraft verleihen, die wahre Erziehung vermitteln soll, denn nur Leben erzeugt wiederum Leben. Ez54 78.1
Bei der Ausbildung seiner Jünger wandte der Heiland die im Anfang gestiftete Erziehungsmethode an. Die zwölf Ersterwählten bildeten mit einigen andern, die sich zeitweise zu ihnen gesellten, um ihren (leiblichen) Bedürfnissen zu dienen, die Familie Jesu. Im Hause, bei Tisch, im Kämmerlein und auf freier Flur waren sie um ihn. Sie begleiteten ihn auf seinen Reisen, teilten seine Mühsale und Entbehrungen und halfen ihm, so gut sie konnten, bei seinem Werk. Ez54 78.2
Manchmal lehrte er sie, wenn sie miteinander am Bergabhang saßen, zuweilen auch am Ufer des Sees oder vom Fischerkahn aus, ein andermal, wenn sie ihres Weges wandelten. Sooft er zur Menge sprach, bildeten die Jünger den inneren Kreis. Sie drängten sich nah an ihn heran, damit ihnen nichts von seinen Unterweisungen entginge. Sie waren aufmerksame Zuhörer, die brennend gern die Wahrheiten verstehen wollten, die sie einmal an alle Länder und Zeitalter weitergeben sollten. Ez54 78.3
Jesus hatte seine ersten Schüler aus den Reihen des gewöhnlichen Volkes erwählt. Es handelte sich bei diesen Fischern aus Galiläa um bescheidene, ungelehrte Leute, um Männer, die in der Gelehrsamkeit und im Brauchtum der Rabbiner nicht bewandert, aber in der strengen Schule der Mühen und Entbehrungen ausgebildet waren. Es waren Leute mit angeborenen Fähigkeiten und gelehrigem Geist, Männer, die für das Werk des Heilandes unterwiesen und zugerüstet werden konnten. Im Alltagsleben gibt es manchen einfachen Arbeiter, der sich geduldig seinen täglichen Pflichten unterzieht, ohne eine Ahnung von den schlummernden Kräften zu haben, die ihm — wenn sie zur Tat geweckt wären — einen Platz unter den großen Führern der Welt sichern könnten. Solchen Schlags waren die Männer, die der Heiland zu seinen Mitarbeitern berief. Und dazu genossen sie den Vorteil, drei Jahre lang durch den größten Erzieher geschult zu werden, den diese Welt je gekannt hat. Ez54 78.4
Unter diesen ersten Jüngern trat eine ausgeprägte Verschiedenheit zutage. Sie sollten die Lehrer der Welt werden und verkörperten daher stark voneinander abweichende Charaktertypen. Da war Levi Matthäus, der Zöllner, herausgerufen aus einem geschäftigen Leben im Dienste Roms, oder Simon der Eiferer, ein unnachgiebiger Feind kaiserlicher Obergewalt; daneben der leicht erregbare, selbstgefällige, warmherzige Petrus mit seinem Bruder Andreas; Judas der Judäer, sehr begabt und gewandt, aber von niedriger Gesinnung; Philippus und Thomas, die bei allem Ernst und aller Treue doch trägen Herzens waren zu glauben; Jakobus der Jüngere und Judas, im Jüngerkreise von geringerer Bedeutung, aber dennoch kraftvolle Männer, bei denen sich Fehler und Tugenden gleich stark ausprägten; Nathanael, in seiner aufrichtigen und vertrauensvollen Art einem Kinde gleich, und die ehrgeizigen Söhne des Zebedäus mit ihren Herzen voller Liebe. Ez54 79.1
Um das Werk, zu dem sie berufen waren, erfolgreich durchführen zu können, mußten die Jünger, soweit sie sich auch in ihrer natürlichen Eigenart, in ihrer Ausbildung und in den Lebensgewohnheiten unterschieden, zur Einmütigkeit im Fühlen, Denken und Handeln gelangen. Es war das Ziel Christi, solchen Einklang zu schaffen. Zu diesem Zweck suchte er die Einheit zwischen ihnen und sich selbst herzustellen. Die Last, die er bei dem Ringen um sie fühlte, findet ihren Ausdruck in seinem Gebet zum Vater: “... auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns eins seien ... und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und liebest sie, gleichwie du mich liebst.” Johannes 17,21.23. Ez54 79.2
Von den zwölf Jüngern sollten vier einst eine führende Rolle spielen — jeder in einer bestimmten Richtung. Christus, der alles voraussah, erteilte ihnen Lehren, um sie dafür vorzubereiten. Jakobus war zu einem raschen Tode durch das Schwert bestimmt; Johannes sollte seinem Meister am längsten von allen Brüdern unter Verfolgung und Mühsal dienen; Petrus würde als Pionier jahrhundertealte Schranken durchbrechen und die heidnische Welt unterrichten, und Judas besaß die Fähigkeit, im Dienst über seine Brüder hinauszuwachsen, doch hegte er in seinem Innern Pläne, von deren Auswirkung er wenig ahnte. Diesen vier widmete Christus die größte Sorgfalt. Sie waren Empfänger seiner zahlreichsten, sorgsamsten Unterweisungen. Ez54 79.3
Petrus, Jakobus und Johannes suchten jede Gelegenheit, mit dem Meister in enge Berührung zu kommen, und ihrem Wunsche wurde entsprochen. Von allen Zwölfen waren sie am innigsten mit ihm verbunden. Johannes konnte sich nur mit einem noch vertrauteren Verhältnis zufrieden geben, und dieses wurde ihm auch gewährt. Bei jener ersten Begegnung am Jordan, als Andreas, nachdem er Jesus gehört hatte, hinweg eilte, um seinen Bruder zu rufen, saß Johannes still da und war in die Betrachtung wundersamer Themen versunken. Er folgte dem Heiland nach, stets ein eifriger, gespannter Zuhörer. Doch hatte Johannes keinen fehlerlosen Charakter. Er war kein sanfter, träumerischer Schwärmer. Er und sein Bruder wurden als die “Donnerskinder” bezeichnet. Johannes war stolz, ehrgeizig und streitsüchtig; aber unter all diesen Charakterzügen gewahrte der göttliche Lehrer das aufrichtige, glutvolle, liebende Herz. Jesus tadelte seinen Eigennutz, enttäuschte seinen Ehrgeiz und prüfte seinen Glauben. Aber er offenbarte ihm auch das, wonach sein Inneres verlangte die Schönheit heiligen Wesens, seine umwandelnde Gottesliebe. “Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast” (Johannes 17,6), sagte er zum Vater. Ez54 80.1
Johannes war eine Natur, die sich nach Liebe, Mitgefühl und Gemeinschaft sehnte. Er drängte sich nahe an Jesus heran, saß an seiner Seite, lehnte an seiner Brust. Wie eine Blume sich von Tau und Sonnenschein ernährt, so nahm er göttliches Licht und Leben in sich auf. Voller Verehrung und Liebe blickte er auf den Erlöser, bis sein einziges Verlangen darin bestand, Christus ähnlich zu werden und Gemeinschaft mit ihm zu pflegen, bis sich in seinem Charakter der des Meisters widerspiegelte. “Sehet”, sagte er, “welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir Gottes Kinder sollen heißen! Darum kennt euch die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeglicher, der solche Hoffnung hat zu ihm, der reinigt sich, gleichwie er auch rein ist.” 1.Johannes 3,1-3. Ez54 80.2
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Keines Jüngers Geschichte veranschaulicht die Erziehungsmethode Christi besser als die des Petrus. Dieser war kühn, angriffslustig und selbstsicher, rasch im Begreifen, Handeln und Wiedervergelten, doch großmütig im Vergeben. So irrte er denn oft und wurde häufig getadelt. Dabei wurde seine innige Treue und Ergebenheit Christus gegenüber nicht weniger entschieden anerkannt und gelobt. Der Heiland verfuhr geduldig und in verständnisvoller Liebe mit seinem ungestümen Jünger. Er suchte sein Selbstvertrauen zu dämpfen und ihn Demut, Gehorsam und Vertrauen zu lehren. Ez54 81.1
Aber Petrus lernte seine Lektion nur teilweise. Seine Selbstsicherheit schwand nicht. Ez54 81.2
Oft, wenn die Bürde schwer auf dem Herzen Jesu lastete, suchte er den Jüngern Einblick in seine künftigen Prüfungen und Leiden zu geben. Aber ihre Augen wurden gehalten. Solches Wissen war ihnen unwillkommen; sie waren daher blind dafür. Die Eigenliebe, die vor der Leidensgemeinschaft mit Christus zurückschreckte, veranlaßte Petrus zu dem Einspruch: “Herr, schone dein selbst; das widerfahre dir nur nicht!” Matthäus 16,22. In seinen Worten kam das Fühlen und Denken der Zwölf zum Ausdruck. Ez54 81.3
So gingen sie weiter ihres Weges, während die Krise näherrückte. Sie waren dabei prahlerisch und streitsüchtig, verteilten im voraus königliche Würden und ahnten nichts vom Kreuz. Ez54 81.4
Die Erfahrung des Petrus enthielt eine Lehre für sie alle. Für das Selbstvertrauen bedeuten Prüfungen Niederlagen. Die sicheren Folgen einer unbesiegten Sünde konnte Christus nicht verhindern. Aber wie er seine Hand rettend ausgestreckt hatte, als die Wogen über Petrus zusammenzuschlagen drohten, so neigte sich auch seine Liebe helfend herab, als die tiefen Wasser über die Seele seines Jüngers hereinbrachen. Obwohl Petrus schon am Rande des Verderbens wandelte, brachten ihn seine prahlerischen Worte immer wieder und immer noch näher an den Abgrund. Stets von neuem ertönte die Warnung: Du wirst verleugnen, “daß du mich kennest”. Lukas 22,34. In dem Bekenntnis: “Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen” (Lukas 22,33), äußerte sich das bekümmerte, liebende Herz des Jüngers. Er, der in den Herzen liest, richtete an Petrus die damals wenig beachtete Botschaft, die jedoch dann in die schnell hereinbrechende Finsternis einen Hoffnungsstrahl warf: “Simon, Simon, siehe, der Satanas hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten wie den Weizen; ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.” Lukas 22,31.32. Ez54 82.1
Als in der Gerichtshalle die Worte der Verleugnung gefallen waren, als Petrus von seiner Liebe und Treue, die unter dem mitleidsvollen, liebenden und bekümmerten Blick des Heilandes wieder angefacht war, in den Garten fortgetrieben wurde, wo Christus geweint und gebetet hatte, als seine Reuetränen auf den Rasen fielen, den Jesu Blutstropfen in seiner Todespein genetzt hatten, da gaben die Worte des Erlösers seiner Seele Halt: “Ich aber habe für dich gebeten ... wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.” Christus überließ ihn nicht der Verzweiflung, obwohl er seine Sünde vorausgesehen hatte. Ez54 82.2
Hätte der Blick, den Jesus ihm zuwarf, Verdammnis statt Mitleid ausgedrückt, hätte der Heiland nicht von Hoffnung gesprochen, als er ihm seine Sünde voraussagte, wie tief wäre dann die Finsternis gewesen, die Petrus umhüllt hätte, wie grenzenlos die Verzweiflung seiner gequälten Seele! Was hätte ihn in dieser Stunde der Pein und des Abscheus vor sich selber davor zurückhalten können, denselben Weg zu gehen wie Judas? Ez54 82.3
Er, der seinem Jünger den Schmerz nicht ersparen konnte, ließ ihn diese Bitternis nicht allein auskosten. Seine Liebe versagt nicht und läßt niemand in Stich. Ez54 83.1
Menschliche Wesen, die ja selbst dem Bösen verhaftet sind, neigen leicht dazu, mit dem Versuchten und Irrenden unsanft umzugehen. Sie können nicht im Herzen lesen, sie wissen nicht um sein Ringen, seine Qual. Sie müssen es lernen, in Liebe zu tadeln, heilsame Wunden zu schlagen, in die Warnung die Hoffnung einzuflechten. Ez54 83.2
Nicht Johannes, der mit Jesus im Gerichtssaal wachte, der neben seinem Kreuz stand und als erster von den Zwölfen zum Grabe kam, nicht Johannes, sondern Petrus war es, der in der ersten Botschaft Christi nach seiner Auferstehung an die Jünger mit Namen erwähnt wurde. “Sagt es seinen Jüngern und Petrus”, sprach der Engel, “daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen.” Markus 16,7. Ez54 83.3
Bei der letzten Zusammenkunft Christi mit den Jüngern am See erhielt Petrus seinen Platz unter den Zwölfen zurück, nachdem er durch die dreimal ausgesprochene Frage: “Hast du mich lieb?” auf die Probe gestellt worden war. Dann wurde ihm seine Aufgabe zugeteilt; er sollte die Herde des Herrn weiden. Schließlich gab ihm Jesus die letzte persönliche Weisung, indem er ihn aufforderte: “Folge du mir nach.” Johannes 21,17.22. Ez54 83.4
Nun konnte Petrus diese Worte begreifen. Die Lehre, die Christus erteilt hatte, als er ein kleines Kind mitten unter die Jünger stellte und sie aufforderte, diesem gleich zu werden, verstand er nun besser. Da er sowohl seine eigene Schwäche als auch die Macht Christi klarer erkannt hatte, war er bereit, zu vertrauen und zu gehorchen. In der Kraft seines Meisters konnte er ihm nachfolgen. Ez54 83.5
Am Ende seines mühe und opferreichen Lebens achtete es der Jünger, der einst so wenig bereit gewesen war, sich mit dem Kreuz auseinanderzusetzen, für eine Freude, sein Leben für das Evangelium hinzugeben, wobei er nur empfand, daß es für ihn, der den Herrn verleugnet hatte, eine zu hohe Ehre war, in derselben Weise wie sein Meister zu sterben. Ez54 83.6
Die Umwandlung des Petrus war ein Wunder göttlicher Liebe. Sie gibt allen, die bestrebt sind, dem großen Lehrer in seinen Fußtapfen nachzufolgen, eine Lehre fürs Leben. Ez54 84.1
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Jesus rügte seine Jünger, er ermahnte und warnte sie, aber Johannes, Petrus und ihre Brüder verließen ihn nicht. Trotz allen Tadels beschlossen sie, bei Jesus zu bleiben, und der Heiland zog sich ungeachtet ihrer Mängel nicht von ihnen zurück. Er nimmt die Menschen, wie sie sind, mit all ihren Fehlern und Schwächen und erzieht sie für seinen Dienst, wenn sie sich von ihm ertüchtigen und belehren lassen. Ez54 84.2
Unter den Zwölfen war aber einer, an den Christus bis kurz vor der Beendigung seines Werkes kein unmittelbares Wort des Tadels richtete. Ez54 84.3
Mit Judas war ein widerspenstiges Element bei den Jüngern eingekehrt. Er hatte sich Jesus angeschlossen, weil ihn dessen Charakter und Leben anzogen. Er hatte aufrichtig eine innere Wandlung ersehnt und gehofft, sie durch eine Vereinigung mit Jesus zu erfahren. Aber dieser Wunsch wurde nicht zum vorherrschenden. Was ihn leitete, war die Hoffnung auf eigenen Vorteil in dem weltlichen Königreich, das Christus nach seinen Erwartungen aufrichten würde. Obwohl Judas die göttliche Macht der Liebe Christi erkannte, beugte er sich nicht ihrem Herrschaftsanspruch. Er behielt weiterhin sein eigenes Urteil, seine eigenen Meinungen und seine Neigung zum Kritisieren und Verdammen bei. Christi Beweggründe und Handlungen, die oft weit über sein Verständnis hinausgingen, erregten Zweifel und Mißbilligung bei ihm, und seine ehrgeizigen Bestrebungen und Zweifelsfragen übertrugen sich auf die Jünger. Viele ihrer Streitigkeiten um die Oberherrschaft und ein Großteil ihrer Unzufriedenheit mit der Handlungsweise Christi sind auf Judas zurückzuführen. Ez54 84.4
Jesus vermied die unmittelbare Auseinandersetzung, weil er sah, daß Widerspruch nur verhärtete. Die engherzige Selbstsucht im Leben des Judas suchte Christus zu heilen, indem er ihn mit seiner eigenen aufopfernden Liebe in Berührung brachte. In seinen Lehren entwickelte er Grundsätze, die den ichsüchtigen Ehrgeiz des Jüngers an der Wurzel trafen. Eine Lektion nach der andern wurde so erteilt, und mehr als einmal erkannte Judas, daß sein Charakter geschildert, daß seine Sünde gekennzeichnet worden war; aber er wollte nicht nachgeben. Ez54 85.1
Da er dem Ruf der Gnade Widerstand leistete, gewann die Neigung zum Bösen schließlich die Oberhand. Ärgerlich über einen verhüllten Vorwurf und zu einem Verzweiflungsakt getrieben, weil seine ehrgeizigen Träume enttäuscht wurden, überließ sich Judas dem Dämon der Habsucht und beschloß den Verrat an seinem Meister. Vom Passahmahl hinweg, aus der freudvollen Gegenwart Christi und dem Lichte unsterblicher Hoffnung ging er hinaus an sein böses Werk in die äußerste Finsternis, wo es keine Hoffnung gab. Ez54 85.2
“Jesus wußte von Anfang wohl, welche nicht glaubend waren und welcher ihn verraten würde.” Johannes 6,64. Doch in diesem vollen Wissen hatte er mit keinem Ruf der Gnade und mit keinem Geschenk der Liebe zurückgehalten. Ez54 85.3
Weil er sah, in welcher Gefahr Judas stand, hatte er ihn in seine nächste Nähe, in den engeren Kreis seiner erkorenen und vertrauenswürdigen Jünger hereingezogen. Wenn sein Herz selbst aufs schwerste belastet war, hatte er Tag für Tag die Pein ständigen Umgangs mit diesem halsstarrigen, argwöhnischen, finster brütenden Geist ertragen. Er hatte Zeugnis abgelegt und sich bemüht, jenem dauernden, heimlichen, kaum greifbaren Widerstand unter seinen Jüngern entgegenzuwirken. Dies alles geschah, damit es dieser gefährdeten Seele nicht an irgendeinem heilsamen Einfluß fehlen möchte! “... daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken.” “Denn Liebe ist stark wie der Tod.” Hohelied 8,7.6. Ez54 85.4
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Soweit es Judas betraf, war Christi Liebeswerk umsonst gewesen, nicht aber in seiner Wirkung auf die anderen Jünger. Für sie bedeutete es ein Lehrbeispiel, das lebenslang nachwirkte. In alle Zukunft sollte dieses Vorbild zarter Liebe und Geduld ihren Umgang mit den Versuchten und Irrenden beeinflussen. Und noch andere Lehren enthielt es. Bei der Einsetzung der Zwölf hatten die Jünger den starken Wunsch gehegt, Judas möchte einer der Ihren werden. Sie hatten sein Hinzukommen als vielversprechendes Ereignis für die Apostelschar gewertet. Er war mehr als sie mit der Welt in Berührung gekommen; er war ein Mann von guten Umgangsformen, war scharfsinnig und tatkräftig, und da er seine eigenen Fähigkeiten hoch einschätzte, hatte er die Jünger so weit gebracht, daß auch sie viel von ihm hielten. Aber den Methoden, die er im Werke Christi einführen wollte, lagen weltliche Spielregeln zugrunde; weltliche Klugheit beherrschten sie. Sie dienten zur Sicherung irdischer Anerkennung und Ehre zur Erlangung des Reiches dieser Welt. Die Auswirkung solcher Wünsche im Leben des Judas ließ die Jünger den Widerstreit zwischen dem Motiv der Selbsterhöhung und Christi Grundsatz der Demut und Selbstaufopferung dem Grundsatz des geistlichen Königreiches besser verstehen. Im Schicksal des Judas sahen sie, zu welchem Ende es führt, wenn man dem eigenen Ich dient. Ez54 86.1
Für diese Jünger erfüllte die Sendung Christi schließlich ihren Zweck. Nach und nach formten sein Vorbild und seine Lehrbeispiele der Selbstverleugnung ihren Charakter. Sein Tod zerstörte ihre Hoffnung auf irdische Geltung. Der Fall Petri, das Abtrünnigwerden des Judas, ihr eigenes Versagen, als sie Christus in seiner Seelenpein und Gefährdung verließen, fegten ihren Eigendünkel hinweg. Sie erkannten ihre Schwäche; sie sahen etwas von der Größe des Werkes, das ihnen aufgetragen war; sie empfanden die Notwendigkeit der Führung durch den Meister bei jedem ihrer Schritte. Ez54 86.2
Sie wußten, daß er nicht mehr länger persönlich unter ihnen weilen sollte, und erkannten wie nie zuvor den Wert der Gelegenheiten, die ihnen geworden waren, mit dem Gottgesandten Umgang und Zwiesprache zu pflegen. Viele seiner Lehren hatten sie nicht gewürdigt oder verstanden, als sie ausgesprochen wurden; jetzt hätten sie sich diese Reden gern wieder ins Gedächtnis zurückgerufen und seine Worte aufs neue vernommen. Mit welcher Freude erinnerten sie sich nun seiner Zusicherung: Ez54 86.3
“Es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.” “Alles, was ich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kundgetan.” Und “der Tröster ... welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, das ich euch gesagt habe.” Johannes 16,7; Johannes 15,15; Johannes 14,26. “Alles, was der Vater hat, das ist mein.” “Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten ... von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen.” Johannes 16,5.13.14. Ez54 87.1
Die Jünger hatten Christus vom Ölberg aus ihrer Mitte auffahren sehen. Als die Himmel ihn aufnahmen, war ihnen seine Abschiedsverheißung wieder eingefallen: “Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.” Matthäus 28,20. Ez54 87.2
Sie wußten, daß er noch immer mit ihnen fühlte. Sie wußten auch, daß sie einen Vertreter, einen Fürsprecher am Throne Gottes hatten. Im Namen Jesu brachten sie ihre Bitten dar und riefen sich seine Verheißung in die Erinnerung: “So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben.” Johannes 16,23. Ez54 87.3
Immer höher reckten sie die Glaubenshand und gaben machtvoll Zeugnis: “Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.” Römer 8,34. Ez54 87.4
Getreu seiner Verheißung ließ der zum Himmel erhöhte Gottessohn seine Nachfolger auf Erden seiner Fülle teilhaftig werden. Seine Erhebung auf den Thron zur Rechten Gottes wurde durch die Ausgießung des Heiligen Geistes auf seine Jünger angezeigt. Ez54 87.5
Durch das Wirken Christi hatten die Jünger erkannt, daß sie des Heiligen Geistes bedurften; unter der Leitung des Geistes empfingen sie die letzte Vorbereitung und machten sich an ihre Lebensaufgabe. Ez54 87.6
Nun waren sie nicht mehr unwissend und ungebildet, noch eine Gruppe zusammenhangloser Einzelwesen oder uneiniger, widerstreitender Elemente. Sie setzten ihre Hoffnung nicht mehr auf weltliche Anerkennung, vielmehr waren sie “alle einmütig”, eines Geistes und einer Seele. Christus erfüllte ihr Denken. Ihr ganzes Streben galt dem Bau seines Reiches. In Gesinnung und Wesen waren sie ihrem Meister gleich geworden, so daß die Menschen es ihnen ansahen, “daß sie mit Jesus gewesen waren.” Apostelgeschichte 4,13. Ez54 88.1
Danach offenbarte sich die Herrlichkeit Christi in einem Maße, wie sterbliche Menschen sie noch nie erlebt hatten. Unzählige, die seinen Namen geschmäht und seine Macht mißachtet hatten, bekannten sich als Jünger des Gekreuzigten. Mit Hilfe des Geistes Gottes rüttelte das Wirken dieser einfachen Menschen, die Christus erwählt hatte, die ganze Welt auf. So gelangte die Frohbotschaft während einer einzigen Lebensspanne zu allen Völkern der Erde. Ez54 88.2
Denselben Geist nun, der an Christi Statt die ersten Jünger unterwies, hat er auch den heutigen “Mitarbeiten Christi” zum Lehrer bestimmt: “Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.” Matthäus 28,20. Ez54 88.3
Die Gegenwart desselben Ratgebers wird heute in der erzieherischen Arbeit dieselben Ergebnisse zeitigen wie vor alters. Das ist das Ziel, dem wahre Erziehung zustrebt; das ist die Aufgabe, die sie nach Gottes Willen erfüllen soll. Ez54 88.4
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