Sogar Zweifel überfielen den mit dem Tode ringenden Sohn Gottes; denn er vermochte nicht, durch die Pforten des Grabes hindurchzuschauen. Keine strahlende Hoffnung sagte ihm, daß er als Sieger aus dem Grabe hervorgehen und daß sein Opfer von seinem Vater angenommen würde. Die Sünde der Welt wurde von Gottes Sohn in all ihrer Schrecklichkeit aufs tiefste empfunden. Die einzige Erkenntnis, die ihn in dieser unbegreiflichen Finsternis durchdrang, war das Mißfallen des Vaters an der Sünde und deren Vergeltung durch den Tod. Ihn erfaßte die Befürchtung, sein Vater könnte die Sünde so sehr verurteilen, daß er sich mit seinem Sohn nicht aussöhnen würde. Der versuchliche Gedanke, daß sein Vater ihn für immer verlassen haben könnte, ließ ihn am Kreuz jenen durchdringenden Schrei ausstoßen: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Matthäus 27,46. Sch1 209.1
In vielem empfand Christus genauso wie die Sünder, wenn die Schalen des göttlichen Zorns über sie ausgegossen werden. Gleich einem Mantel des Todes wird sie dumpfe Verzweiflung umhüllen, und sie werden dann das vollste Ausmaß der Verworfenheit der Sünde erkennen. Durch das Leiden und Sterben des Sohnes Gottes wurde für sie die Erlösung erkauft. Sie könnten das Heil empfangen, wenn sie es gern und freudig annehmen würden; doch wird keiner von ihnen gezwungen, dem Gesetz Gottes gehorsam zu sein. Wenn sie den himmlischen Segen zurückweisen und die Vergnügungen und den Betrug der Sünde wählen, haben sie sich schon entschieden und erhalten am Ende ihren Lohn. Sie werden den Zorn Gottes verspüren und den ewigen Tod erleiden. Für immer sind sie dann von der Gegenwart Jesu getrennt, dessen unermeßliches Opfer sie geringschätzten. Um zeitweiliger Vergnügungen willen haben sie ein Leben der Glückseligkeit und die ewige Herrlichkeit dahingegeben. Sch1 209.2
Während des Todesringens Christi schwankten Glaube und Hoffnung, weil Gott die seinem Sohn gegebene vormalige Zusicherung seines Wohlgefallens und seiner Gunst zurückzog. Der Heiland der Welt stützte sich alsdann auf die Zeugnisse, die ihn gestärkt hatten, solange sein Vater seine Werke annahm und sie mit Wohlgefallen betrachtete. In seinem Todeskampf, in der Hingabe seines kostbaren Lebens konnte er allein durch den Glauben seinem Vater vertrauen, dem er stets freudig Gehorsam gezollt hatte. Weder zur Rechten noch zur Linken wurde er durch helle, lichte Hoffnungsstrahlen aufgemuntert. Alles war von bedrückender Schwermut umgeben. Inmitten der schrecklichen Finsternis, die selbst von der mitempfindenden Natur wahrgenommen wurde, leerte der Erlöser den geheimnisvollen Kelch bis auf den Grund; entsagte sogar der herrlichen Hoffnung und dem klaren Vertrauen auf den Sieg, der ihm verheißen war, und rief mit lauter Stimme: “Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!” Lukas 23,46. Er kannte den Charakter seines Vaters, kannte seine Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und seine große Liebe. Demütig vertraute er ihm. Während die ganze Schöpfung sich in heftigen Fieberschauern schüttelte, vernahmen die verwunderten Zuschauer die an den Vater gerichteten Sterbeworte des Gekreuzigten auf Golgatha. Sch1 210.1
Die Natur nahm an dem Leiden ihres Schöpfers Anteil. Die bebende Erde und die zerrissenen Felsen verkündeten, daß der Sterbende Gottes Sohn war. Ein mächtiges Erdbeben ließ die Erde erzittern. Der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke. Entsetzen erfaßte Henker und Zuschauer als sich die Sonne in Dunkel hüllte, als die Erde unter ihnen erbebte und die Felsen zerrissen. Das Schmähen und Spotten der Hohenpriester und Ältesten verstummte, als Christus seinen Geist in die Hände des Vaters befahl. Die bestürzte Menge zog sich zurück und tappte in der Finsternis ihren Weg zur Stadt. Unterwegs schlugen sie sich an die Brust, und noch von Entsetzen gepackt, sprachen sie nur flüsternd miteinander: “Ein Unschuldiger ist hingerichtet worden. Was soll werden, wenn er wirklich Gottes Sohn ist, wie er behauptete?” Sch1 210.2