Als Christus das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus erzählte, befanden sich viele Juden in der gleichen unglücklichen Lage wie der Reiche. Sie benutzten das, womit Gott sie gesegnet hatte, dazu, ihrer Genusssucht zu frönen, und waren auf dem besten Wege, bald das Urteil zu hören: “Man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden.” Daniel 5,27. Der Reiche hatte materiellen und geistlichen Segen jeder Art erfahren, aber er war nicht bereit, diesen in den Dienst Gottes zu stellen. BRG 216.1
Das jüdische Volk machte es genauso. Der Herr hatte es zum Hüter seiner heiligen Wahrheit eingesetzt, zum Verwalter seiner Gnade. Alle erdenklichen materiellen und geistlichen Segnungen hatte er den Juden eingeräumt und sie aufgerufen, diese an andere weiterzugeben. BRG 216.2
Besonders genau hatte er ihnen vorgeschrieben, wie sie sich um verarmte oder aus der Bahn geworfene Mitbürger und um alle Fremden unter ihnen kümmern sollten. Gott wollte, dass sie nicht nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren, sondern auch an die Bedürftigen dachten und ihren Reichtum mit ihnen teilten. Solche liebevolle Barmherzigkeit versprach er zu segnen. Doch wie der reiche Mann rührten die Israeliten keine Hand, um der Menschheit in materieller oder geistlicher Hinsicht zu helfen. Voll Überheblichkeit hielten sie sich zwar für das auserwählte Lieblingsvolk Gottes, dachten aber nicht daran, ihm zu dienen und ihn anzubeten. BRG 216.3
Sie verließen sich ganz darauf, von Abraham abzustammen. “Wir sind Abrahams Kinder”, sagten sie stolz. Johannes 8,33. Als aber die Stunde der Entscheidung kam, stellte sich heraus, dass sie sich von Gott abgewandt und ihr Vertrauen auf Abraham gesetzt hatten, als ob er Gott sei. BRG 216.4
Christus wollte so gern die verfinsterten Herzen des jüdischen Volkes erhellen. Deshalb sagte er: “Wenn ihr Abrahams Kinder wärt, so tätet ihr Abrahams Werke. Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, wie ich sie von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan.” Johannes 8,39.40. BRG 216.5
Christus betrachtete die Abstammung nicht als persönliches Verdienst, sondern wies darauf hin, dass die geistige Verwandtschaft wichtiger ist als jede natürliche. Die Juden pochten darauf, von Abraham abzustammen, doch weil sie seinem Beispiel nicht folgten, bewiesen sie, dass sie in Wirklichkeit nicht seine Kinder waren. Nur wer wie Abraham der Stimme Gottes gehorcht, gilt als sein echter Nachkomme. Obwohl der Bettler zur untersten sozialen Schicht gehörte, war Christus davon überzeugt, dass Abraham ihn in seinen engsten Freundeskreis aufgenommen hätte. BRG 217.1
Trotz seines Wohlstandes war der reiche Mann so unwissend, dass er Abraham an die Stelle Gottes setzte. Hätte er seine bevorzugte Stellung in der richtigen Weise zu schätzen gewusst und seinen Charakter vom Heiligen Geist formen lassen, dann hätte es bei ihm anders ausgesehen. Das Gleiche gilt für das Volk, zu dem er gehörte. Wäre Israel dem Ruf Gottes gefolgt, dann hätte es auf Grund seiner geistlichen Reife eine völlig andere Zukunft erlebt. Es hatte so viele Fähigkeiten und Möglichkeiten, die Gott gern vermehren wollte, damit es der ganzen Welt Segen und Erkenntnis bringen konnte. Aber die Juden hatten sich innerlich so weit von Gottes Anordnungen entfernt, dass ihr ganzes Leben sich verkehrte. Sie versäumten es, als Haushalter Gottes ihre Gaben treu und rechtschaffen einzusetzen. Mit der Ewigkeit rechneten sie überhaupt nicht, und so zog ihre Untreue den Untergang des ganzen Volkes nach sich. BRG 217.2
Christus wusste, dass die Juden bei der Zerstörung Jerusalems an seine Warnung denken würden, und so kam es auch. Als das Verhängnis über die Stadt hereinbrach, als die Menschen Hunger litten und schreckliche Leiden erdulden mussten, da erinnerten sie sich an die Worte Christi und verstanden auf einmal das Gleichnis. Sie hatten ihr Unglück selbst verschuldet, weil sie es versäumten, das ihnen anvertraute Licht für die Welt leuchten zu lassen. BRG 217.3