Er lüftete den Schleier vor der Zukunft, als er ihnen zeigte, dass das ganze Volk sich seinem Plan widersetzen, seine Segnungen verscherzen und nur noch Verderben über sich bringen würde: “Es war ein Hausherr, der pflanzte einen Weinberg”, so erzählte Christus, “und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes.” Matthäus 21,33. BRG 231.2
Auch der Prophet Jesaja gebraucht das Bild vom Weinberg: “Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte.” Jesaja 5,1.2. BRG 231.3
Der Weinbergbesitzer wählt in der Wildnis ein Stück Land, zäunt es ein, säubert es von Steinen, pflügt es und pflanzt auserlesene Reben hinein. Weil der Boden nun im Vergleich mit dem umliegenden Brachland viel besser ist, erwartet er, dass seine Mühe und Arbeit mit reichem Ertrag belohnt wird. So hatte auch Gott ein Volk aus der Welt erwählt, um es durch Christus erziehen und ausbilden zu lassen. Der Prophet sagt: “Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing.” Jesaja 5,7. Diesem Volk hatte Gott große Vorrechte eingeräumt und es reich gesegnet. Nun wartete er darauf, dass es ihm Ehre machen und die Grundsätze seines Reiches der gefallenen, gottlosen Welt vor Augen führen würde, indem es das Wesen Gottes in seinem Leben widerspiegelte. BRG 231.4
Der Weinberg des Herrn sollte ganz andere Früchte tragen, als man sie bei den Heiden finden konnte. Diese Götzendiener hatten sich vollkommen der Sünde verschrieben: Gewalttätigkeit und Verbrechen, Habgier, Unterdrückung und Laster waren bei ihnen an der Tagesordnung. Ungerechtigkeit, Entartung und Elend waren das Ergebnis dieser Verdorbenheit. Die Früchte von Gottes Weinberg sollten dazu in deutlichem Gegensatz stehen. BRG 232.1
Die Juden waren dazu ausersehen worden, das Wesen Gottes so widerzuspiegeln, wie es Mose offenbart worden war. Die Bitte Moses: “Lass mich deine Herrlichkeit sehen!” hatte der Herr mit der Verheißung beantwortet: “Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen.” 2.Mose 33,18.19. “Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde.” 2.Mose 34,6.7. Diese Wesensmerkmale erwartet Gott von seinem ganzen Volk. Ihr reines Herz und gläubiger Lebenswandel, ihr Einfühlungsvermögen und liebevolles Verständnis für andere sollte es zum Ausdruck bringen: “Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele.” Psalm 19,8. BRG 232.2
Gott wollte durch die Juden alle Völker der Erde segnen und ihnen sein Licht zukommen lassen. Die Heiden hatten infolge ihrer Verstrickung in die Sünde die Kenntnis von Gott verloren; dennoch vernichtete Gott sie in seiner Gnade nicht, sondern wollte ihnen Gelegenheit geben, ihn durch seine Gemeinde kennen zu lernen. Durch das Vorbild seines Volkes plante er, das Ebenbild Gottes im Menschen wiederherzustellen. BRG 232.3
Zu diesem Zweck rief Gott schon Abraham von seinen ungläubigen Verwandten fort und gab ihm den Auftrag, sich im Land Kanaan niederzulassen. “Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.” 1.Mose 12,2. BRG 233.1
Die Nachkommen Abrahams, Jakob und seine Söhne, führte Gott nach Ägypten, damit sie dort dem großen, gottlosen Volk die Grundbegriffe und grundsätzlichen Forderungen des Reiches Gottes vorleben konnten. Tatsächlich wurde Joseph durch seine untadelige Lebenshaltung und die Art und Weise, wie er dem ägyptischen Volk über die Hungersnot hinweghalf, zu einem Ebenbild Christi. Genauso waren auch Mose und viele andere aus seinem Volk treue Zeugen Gottes. BRG 233.2
Erneut offenbarte der Herr seine Macht und Barmherzigkeit, als er die Israeliten aus Ägypten herausführte. Ihre wunderbare Befreiung und die Erfahrung der Gegenwart Gottes während ihrer Wanderung durch die Wüste sollten nicht nur ihr eigenes geistliches Wachstum fördern, sondern auch die umliegenden Völker auf Gott aufmerksam machen. Der Herr erwies sich damit als der Gott, der über aller menschlichen Autorität und Größe steht. Die Zeichen und Wunder an seinem Volk offenbarten seine Macht über die Natur und über alle, die diese anbeten. Gott strafte das stolze Ägypten, wie er in den letzten Tagen die ganze Erde strafen wird. BRG 233.3
Durch Feuer und Sturm, Erdbeben und Tod rettete der große “Ich bin” sein Volk und führte es fort aus dem Land der Sklaverei “durch die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war”. Er ließ “Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen”. 5.Mose 8,15. “und gab ihnen Himmelsbrot”. Psalm 78,24. “Denn”, so sagte Mose, “des Herrn Teil ist sein Volk, Jakob ist sein Erbe. Er fand ihn in der Wüste, in der dürren Einöde sah er ihn. Er umfing ihn und hatte acht auf ihn. Er behütete ihn wie seinen Augapfel. Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über ihnen schwebt, so breitete er seine Fittiche aus und nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln. Der Herr allein leitete ihn und kein fremder Gott war mit ihm.” 5.Mose 32,9-12. So rief Gott sein Volk zu sich, damit es unter seinem Schutz lebte. BRG 233.4
Christus führte die Israeliten während ihrer Wanderung durch die Wüste. Bei Tag durch die Wolkensäule und bei Nacht durch die Feuersäule verhüllt, leitete und lenkte er sie. Er behütete sie vor den Gefahren der Wüste, brachte sie sicher ins verheißene Land und machte sie vor allen Völkern, die nicht an ihn glaubten, zu seinem kostbarsten Besitz, zum Weinberg des Herrn. BRG 234.1
Diesem Volk vertraute Gott seine Prophezeiungen an. Er gab ihm sein Gesetz mit den ewigen Grundsätzen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Reinheit. Die Gebote sollten die Kinder Israel vor der selbstzerstörerischen Sünde bewahren. Und wie der Turm im Weinberg stand, so ließ Gott mitten im Land seinen heiligen Tempel errichten. BRG 234.2
So wie Christus mit dem Volk Israel in der Wüste gewesen war, blieb er auch weiterhin ihr geistlicher Lehrer und Führer. In der Stiftshütte wie im Tempel zeigte sich seine Herrlichkeit in Gestalt der heiligen Schechina über der Bundeslade. Ununterbrochen zeigte er den Israeliten den Reichtum seiner Geduld und Gnade. BRG 234.3
Gott wollte durch sein Volk gepriesen und verherrlicht werden. Er hatte den Israeliten so viel geistlichen Segen zukommen lassen und ihnen nichts vorenthalten, was ihnen dabei helfen konnte, ihm immer ähnlicher zu werden und somit sein Wesen der Welt darzustellen. BRG 234.4
Wenn sie seinem Gesetz gehorchten, wollte er sie mehr als alle anderen Völker mit Wohlstand segnen. Der Herr, der ihnen Weisheit und praktische Begabung schenken konnte, wollte auch weiterhin ihr Lehrer sein und durch seine Gebote ihr Wesen verfeinern. Ihr Gehorsam sollte sie vor den Krankheiten bewahren, von denen andere Völker heimgesucht wurden, und ihnen große geistige Fähigkeiten schenken. Gottes Herrlichkeit, seine Majestät und Kraft sollten in ihrem Wohlergehen zum Ausdruck kommen. Der Herr schenkte ihnen als Volk von Priestern und Fürsten alle Fähigkeiten, durch die sie zum bedeutendsten Volk auf der Erde hätten werden können. BRG 234.5
Durch Mose hatte Christus ihnen ganz klar den Plan Gottes vorgelegt und ihnen auch die Bedingungen für den in Aussicht gestellten Segen genannt: “Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind ... So sollst du nun wissen, dass der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten ... So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der Herr, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat, und wird dich lieben und segnen und mehren, und er wird segnen die Frucht deines Leibes und den Ertrag deines Ackers, dein Getreide, Wein und Öl, und das Jungvieh deiner Kühe und deiner Schafe in dem Lande, das er dir geben wird, wie er deinen Vätern geschworen hat. Gesegnet wirst du sein vor allen Völkern ... Der Herr wird von dir nehmen alle Krankheit und wird dir keine von all den bösen Seuchen der Ägypter auflegen.” 5.Mose 7,6.9.11-15. BRG 235.1
Gott versprach, ihr Getreide gedeihen zu lassen, ihnen aus Felsen Honig fließen zu lassen und sie mit Wohlstand zu segnen, wenn sie seinen Geboten gehorchten. Er wollte ihnen ein langes Leben schenken und ihnen sein Heil erweisen. BRG 235.2
Wegen ihres Ungehorsams hatten Adam und Eva den Garten Eden verloren. Die Sünde lastete als Fluch auf der ganzen Erde. Doch wenn die Israeliten den Anweisungen Gottes folgten, dann sollte ihr Land seine frühere Schönheit und Fruchtbarkeit zurückerhalten. Der Herr selbst sagte ihnen, wie sie den Boden bestellen sollten, um mit seiner Hilfe dem ganzen Land seine ursprüngliche Fruchtbarkeit zurückzugeben. Mithin wäre ihr Land unter der Herrschaft Gottes zum Anschauungsunterricht für geistliche Wahrheiten geworden. Wie nämlich die Erde in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen ihre Schätze hervorbringt, so spiegeln Menschen, die sich an Gottes Sittengesetz halten, sein Wesen wider. Selbst die Heiden sollten auf diese Weise die Überlegenheit derer erkennen, die dem lebendigen Gott dienen und ihn anbeten. BRG 235.3
“Sieh”, sagte Mose, “ich hab euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass, wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem ein Gott so nahe ist wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?” 5.Mose 4,5-8. BRG 236.1
Die Kinder Israel sollten das ganze Gebiet einnehmen, das ihnen der Herr zuwies, und alle Völker daraus vertreiben, die nicht bereit waren, ihn anzubeten und ihm zu dienen. Gott hatte aber vor allem den großen Wunsch, dass Menschen den Weg zu ihm finden würden, wenn sie sein Wesen in seinem Volk erkannten. Die ganze Welt sollte die Einladung des Evangeliums erhalten. Der Opferdienst hatte den tieferen Sinn, Christus vor allen Völkern zu erhöhen, damit alle, die auf ihn schauten, das ewige Leben haben konnten. Wer den Götzendienst aufgab und den wahren Gott anbetete — wie Rahab, die Kanaaniterin, und Rut, die Moabiterin —, gehörte von da an zum auserwählten Volk. So sollte Israel nach und nach wachsen, seine Grenzen immer mehr erweitern und schließlich die ganze Erde umfassen. BRG 236.2
Gott wollte alle Völker unter seine gütige Herrschaft bringen und die ganze Erde mit Frieden und Freude erfüllen. Der Mensch war ja dafür geschaffen worden, um glücklich zu sein, und Gott möchte jedem Einzelnen himmlischen Frieden schenken. Er möchte so gern, dass die Familien hier auf der Erde ein Sinnbild für die große himmlische Familie sind. BRG 236.3
Doch Israel richtete sich nicht nach Gottes Plänen. Der Herr erklärte: “Ich aber hatte dich gepflanzt als einen edlen Weinstock, ein ganz echtes Gewächs. Wie bist du mir denn geworden zu einem schlechten, wilden Weinstock?” Jeremia 2,21. Israel ist ein “üppig rankender Weinstock ... Ihr Herz ist falsch.” Hosea 10,1. “Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel ... Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.” Jesaja 5,3-7. BRG 236.4
Der Herr hatte sein Volk durch Mose vor den Folgen der Untreue gewarnt. Wenn sie den Bund mit ihm nicht hielten, so würden sie damit jede Verbindung zu Gott, ihrer Lebensquelle, abbrechen und damit auch seinen Segen verlieren. “So hüte dich nun davor”, hatte Mose gewarnt, “den Herrn, deinen Gott, zu vergessen, sodass du seine Gebote und seine Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst. Wenn du nun gegessen hast und satt bist und schöne Häuser erbaust und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt, dann hüte dich, dass dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergisst ... du könntest sonst sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen ... Wirst du aber den Herrn, deinen Gott, vergessen und andern Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten, so bezeuge ich euch heute, dass ihr umkommen werdet; eben wie die Heiden, die der Herr umbringt vor eurem Angesicht, so werdet ihr auch umkommen, weil ihr nicht gehorsam seid der Stimme des Herrn, eures Gottes.” 5.Mose 8,11-14.17-20. BRG 237.1
Die Juden schlugen diese Warnung in den Wind. Sie vergaßen Gott und damit die großartige Aufgabe, ihn ihren Mitmenschen nahe zu bringen. Was sie selbst an Gutem empfangen hatten, nützte daher der Welt gar nichts, sondern diente den Juden nur dazu, sich selbst zu verherrlichen. Sie dachten gar nicht daran, Gott so zu gehorchen, wie er es von ihnen verlangte, und konnten deshalb weder religiöse Führer noch Vorbild für andere sein. Wie bei den Menschen vor der Sintflut war ihre ganze Denkweise und Lebenshaltung gottlos. Ihr so genannter Glaube war eine Farce, wenn sie einerseits sagten: “Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!” (Jeremia 7,4), andererseits aber von Gottes Wesen ein Zerrbild lieferten, seinem Namen Schande machten und sein Heiligtum verunreinigten. BRG 237.2
Die Weingärtner, denen der Herr die Verantwortung für seinen Weinberg übertragen hatte, rechtfertigten das in sie gesetzte Vertrauen nicht. Priester und Lehrer des Volkes hätten sie sein sollen, aber sie erwiesen sich als treulos, weil sie es versäumten, den Menschen Gottes Güte und Gnade vor Augen zu malen und ihnen zu sagen, dass dieser Gott einen Anspruch auf ihre Liebe und Mitarbeit hatte. Diesen Weingärtnern ging es nur um ihr eigenes Ansehen. Die Früchte des Weingartens wollten sie allein genießen, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sich verehren lassen. BRG 238.1
Die jüdische Geistlichkeit machte sich auf andere Weise schuldig als der durchschnittliche Sünder, denn diese Männer waren Gott in besonderem Maß verpflichtet. Sie hatten gelobt, nichts anderes zu lehren als “So spricht der Herr!” und im täglichen Leben diesem Wort stets strikten Gehorsam zu zollen, doch in der Praxis verdrehten sie die Heilige Schrift und erschwerten das Leben der Menschen durch Vorschriften, die jeden Schritt regelten. Das Volk lebte deshalb in ständiger innerer Unruhe, denn niemand konnte alle Forderungen der Schriftgelehrten erfüllen. So kam es schließlich dazu, dass selbst Gottes Gesetz nicht mehr wichtig genommen wurde, weil die Menschengebote sich als unerfüllbar erwiesen hatten. BRG 238.2
Der Herr hatte seinem Volk deutlich gesagt, dass er selbst der Eigentümer des Weinbergs sei und dass es all seinen Besitz als Leihgabe von ihm erhalten habe, um ihn zu seiner Ehre einzusetzen. Aber die Priester und Lehrer übten ihr Amt keineswegs in dem Bewusstsein aus, dass sie dabei Gottes Eigentum verwalteten. Systematisch setzten sie alle Fähigkeiten und Mittel, die der Herr ihnen zur Förderung seines Werkes anvertraut hatte, nur zu ihrem eigenen Vorteil ein. Wegen ihrer Habgier wurden sie sogar von den Heiden verachtet, und diese bekamen dadurch eine völlig falsche Vorstellung von Gott und seinem Reich. BRG 238.3
Väterliche Geduld hatte Gott mit seinem Volk. Durch gewährte Gnadengeschenke und vorenthaltene Segnungen versuchte er inständig, ihr Herz zu bewegen. Mit großer Geduld wies er sie auf ihre Sünden hin und wartete darauf, dass sie ihre Schuld eingestehen würden. Er sandte Propheten und Boten, um die Weingärtner an seine Ansprüche zu erinnern; diese aber erhielten alles andere als einen freundlichen Empfang, sondern sie wurden wie Feinde behandelt und teilweise sogar verfolgt und getötet. Daraufhin schickte Gott neue Boten, aber auch denen erging es nicht anders, im Gegenteil: Der Hass der Weingärtner wurde mit der Zeit nur noch größer. BRG 239.1
Als letzten Versuch sandte Gott schließlich seinen Sohn, weil er dachte: “Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen.” Matthäus 21,37. Doch ihr langer Widerstand hatte die Weingärtner bösartig gemacht, und sie sagten zueinander: “Das ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen!” Matthäus 21,38. Dann werden wir in Zukunft den Weinberg für uns allein haben und mit dem Ertrag machen können, was wir wollen. BRG 239.2
Die jüdische Geistlichkeit liebte Gott nicht. Diese Männer hatten sich bewusst von der Verbindung mit ihm abgeschnitten und gingen auf keinen seiner Versöhnungsversuche ein. Als Christus kam, der geliebte Sohn Gottes, um seine Ansprüche auf den Weinberg geltend zu machen, da zeigten ihm die Gärtner unverhohlen ihre Verachtung und sagten: “Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche.” Lukas 19,14. BRG 239.3
Sie waren neidisch auf das tadellose Wesen Christi und fürchteten seinen Erfolg, weil er die Menschen viel besser ansprechen konnte als sie. Hinzu kam, dass er ihnen Vorwürfe machte, ihre Heuchelei entlarvte und ihnen zu verstehen gab, wohin ihre Haltung sie führen werde. Das alles erregte ihren Zorn aufs Äußerste. Es war für sie unerträglich, Vorwürfe anhören zu müssen, denen sie nichts entgegnen konnten. Das hohe Ideal von Gerechtigkeit, das Christus ihnen ständig vor Augen führte, war ihnen verhasst. Sie merkten, wie er durch das, was er sagte, ihre Selbstsucht bloßstellte, und darum beschlossen sie, ihn zu töten. Seine beispielhafte Wahrhaftigkeit, seine ehrliche Frömmigkeit und geistliche Reife waren ihnen in höchstem Maß zuwider, denn dadurch wurde ihr eigener Egoismus entlarvt. Als schließlich für sie die entscheidende Prüfung kam, in der es um Gehorsam und ewiges Leben oder Ungehorsam und ewigen Tod ging, da stellten sie sich gegen den Heiligen Israels. BRG 239.4
Vor die Wahl zwischen Christus und Barabbas gestellt, schrien sie: “Gib uns Barabbas los!” Lukas 23,18. Als Pilatus sie fragte, was er denn mit Jesus machen sollte, da riefen sie: “Lass ihn kreuzigen!” Matthäus 27,22. “Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König als den Kaiser.” Johannes 19,15. Und als Pilatus sich schließlich die Hände wusch und sagte: “Ich bin unschuldig an seinem Blut”, da stimmten die Priester in das Geschrei des verblendeten Pöbels mit ein: “Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!” Matthäus 27,24.25. BRG 240.1
Das also war die Wahl, die Israels Geistlichkeit traf. Sie wurde in das Buch eingetragen, das Johannes in der Hand dessen sah, der auf dem Thron saß, und das kein Mensch öffnen konnte. In ihrer ganzen Rachsucht wird diese Entscheidung ihnen erneut vor Augen geführt werden an dem Tag, wenn der Löwe aus dem Stamm Juda das Buch entsiegeln wird. BRG 240.2
Die Juden stellten sich gerne vor, Gottes Lieblinge zu sein, und deshalb glaubten sie, als seine Gemeinde immer eine hohe Stellung einnehmen zu müssen. Sie waren stolz darauf, Nachkommen Abrahams zu sein, und betrachteten ihr Wohlergehen als eine Selbstverständlichkeit, an der nichts auf der Welt oder im Himmel etwas ändern konnte. Durch ihren Unglauben brachten sie aber selbst das Verdammungsurteil des Himmels über sich und schnitten sich von der Verbindung mit Gott ab. BRG 240.3
Nachdem Christus im Gleichnis vom Weinberg den Priestern verdeutlicht hatte, mit welcher Tat sie ihre Bosheit krönen würden, fragte er sie: “Wenn nun der Herr des Weinbergs kommen wird, was wird er mit diesen Weingärtnern tun?” Die Priester hatten der Erzählung zwar mit Interesse zugehört, aber nicht gemerkt, dass sie selbst gemeint waren; deshalb antworteten sie mit dem Volk: “Er wird den Bösen ein böses Ende bereiten und seinen Weinberg andern Weingärtnern verpachten, die ihm die Früchte zu rechter Zeit geben.” Matthäus 21,40.41. BRG 240.4
Damit hatten sie ihr eigenes Urteil gefällt. Jesus schaute sie an, und unter seinem forschenden Blick erkannten sie plötzlich, dass er die geheimsten Gedanken ihres Herzens lesen konnte. Göttlicher Glanz ging von ihm aus. Da merkten sie, dass sie selbst die Weingärtner waren, und sie riefen aus: “Das sei ferne!” Lukas 20,16. BRG 241.1
Eindringlich und bekümmert fragte Jesus: “Habt ihr nie gelesen in der Schrift: ‘Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen’? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt. Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermalmen.” Matthäus 21,42-44. BRG 241.2
Christus hätte die Juden gern vor diesem Urteil bewahrt, wenn sie ihn angenommen hätten. Doch Neid und Eifersucht machten sie unversöhnlich. Sie waren fest gewillt, Jesus von Nazareth nicht als Messias anzuerkennen. Und weil sie damit das Licht der Welt verachteten, lebten sie von da an in Dunkelheit. Schließlich erfüllte sich ihr Schicksal, wie es ihnen vorausgesagt worden war. Ihr zügelloser Hass wurde ihnen zum Verhängnis und führte dazu, dass sie ihren eigenen Untergang heraufbeschworen. BRG 241.3
Mit ihrer störrischen Arroganz zogen sie den Hass der römischen Eroberer auf sich. Jerusalem wurde zerstört, der Tempel dem Erdboden gleichgemacht und sein Standort regelrecht umgepflügt. Die Juden selbst kamen teils auf die schrecklichste Weise um, teils wurden sie — und zwar zu Millionen — als Sklaven in heidnische Länder verkauft. BRG 241.4
Als Volk in seiner Gesamtheit hatten es die Juden versäumt, sich an Gottes Plan zu halten, und deshalb wurde ihnen der Weinberg genommen. Die Vorrechte, die sie missbraucht, und die Aufgaben, die sie nicht ernst genug genommen hatten, wurden anderen Menschen übertragen. BRG 241.5