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Kapitel 38: Die Reise um Edom PP 402

Das israelitische Lager bei Kadesch lag dicht an der Grenze Edoms. Mose und das Volk wollten gern den Weg zum verheißenen Land durch dieses Gebiet nehmen. Also schickten sie nach Gottes Anweisung eine Botschaft an den Edomiterkönig: “So läßt dir dein Bruder Israel sagen: Du kennst all die Mühsal, die uns betroffen hat, daß unsere Väter nach Ägypten hinabgezogen sind und wir lange Zeit in Ägypten gewohnt haben und daß die Ägypter uns und unsere Väter schlecht behandelt haben. Und wir schrien zu dem Herrn; der hat unsere Stimme gehört und einen Engel gesandt und uns aus Ägypten geführt. Und siehe, wir sind in Kadesch, einer Stadt an deiner Grenze. Laß uns durch dein Land ziehen. Wir wollen nicht durch Äcker oder Weinberge gehen, auch nicht Wasser aus den Brunnen trinken. Die Landstraße wollen wir ziehen, weder zur Rechten noch zur Linken weichen, bis wir durch dein Gebiet hindurchgekommen sind.” 4.Mose 20,14-17. PP 402.1

Auf diese höfliche Bitte kam eine drohende, abschlägige Antwort: “Du sollst nicht hindurchziehen, oder ich werde dir mit dem Schwert entgegentreten.” 4.Mose 20,18. PP 402.2

Betroffen von dieser Zurückweisung, sandten sie ein zweites Gesuch an den König mit dem Versprechen: “Wir wollen auf der gebahnten Straße ziehen, und wenn wir von deinem Wasser trinken, wir und unser Vieh, so wollen wir’s bezahlen. Wir wollen nichts als nur zu Fuß hindurchziehen.” 4.Mose 20,19. PP 402.3

“Du sollst nicht hindurchziehen” (4.Mose 20,20), lautete die Antwort. Und schon waren an den schwer zugänglichen Bergwegen bewaffnete Truppen der Edomiter aufgestellt, so daß ein friedlicher Vormarsch in jener Richtung unmöglich war. Gewalt anzuwenden, war den Hebräern aber verboten. Deshalb mußten sie den weiten Weg um Edom herum antreten. PP 402.4

Hätte das Volk in dieser Prüfungsstunde auf Gott vertraut, würde der Herr der Heerscharen sie durch Edom hindurchgeführt haben. Die Furcht wäre dann auf seiten der Einwohner gewesen, so daß sie statt Feindseligkeit freundliches Entgegenkommen bewiesen hätten. Aber die Israeliten handelten nicht unverzüglich nach dem Wort Gottes, und während sie wieder einmal klagten und murrten, ging die goldene Gelegenheit vorüber. Als sie schließlich so weit waren, dem König ihre Bitte vorzutragen, schlug er sie ab. Seit ihrem Wegzug von Ägypten bemühte sich Satan ununterbrochen, ihnen Hindernisse und Versuchungen in den Weg zu legen, damit sie nur Kanaan nicht erbten. Und durch ihren Unglauben hatten sie ihm selbst wiederholt die Tür geöffnet, Gottes Absicht Widerstand zu leisten. PP 403.1

Es ist wichtig, an Gottes Wort zu glauben und seinen Weisungen entschlossen zu folgen, solange seine Engel darauf warten, uns zu helfen. Aber auch böse Engel stehen bereit, jeden Fortschritt zu bekämpfen. Sobald Gottes Vorsehung seinen Kindern gebietet, voranzugehen, wenn er Großes für sie tun will, bringt Satan sie in Versuchung, dem Herrn durch Zaudern und Unschlüssigkeit zu mißfallen. Er setzt alles daran, Streitsucht zu entfachen, Unzufriedenheit und Unglauben zu erregen, um sie so der Segnungen zu berauben, die Gott ihnen zugedacht hat. Gottes Knechte sollen gewissenhaft sein und kurzentschlossen handeln, sobald sich durch die göttliche Vorsehung Wege auftun. Jedes Zögern gibt Satan Zeit, ihnen Niederlagen beizubringen. PP 403.2

In den ersten Anweisungen, die der Herr Mose über ihren Marsch durch Edom gab, hatte er angekündigt, die Edomiter würden sich vor Israel fürchten. Er verbot allerdings seinem Volk, diesen Vorteil auszunutzen. Weil die Kraft Gottes für Israel stritte und die Furcht die Edomiter zu einer leichten Beute machte, sollten die Hebräer sie nicht berauben. PP 403.3

Der Befehl Jahwes hieß: “Hütet euch ja davor, sie zu bekriegen; ich werde euch von ihrem Lande nicht einen Fußbreit geben, denn das Gebirge Seir habe ich den Söhnen Esau zum Besitz gegeben.” 5.Mose 2,4.5. Die Edomiter waren Nachkommen Abrahams und Isaaks, und um dieser seiner Diener willen war Gott den Kindern Esaus gnädig. Er hatte ihnen das Gebirge Seir als Besitz gegeben, und sie sollten nicht beunruhigt werden, es sei denn, sie entfernten sich selbst durch ihre Sünden aus dem Bereich der göttlichen Gnade. Die Bewohner Kanaans dagegen sollten von den Hebräern vertrieben und vollständig vernichtet werden, weil das Maß ihrer Gottlosigkeit voll war. Für die Edomiter dagegen war noch Bewährungszeit, deshalb sollten sie rücksichtsvoll behandelt werden. Gott hat Gefallen an der Barmherzigkeit und bekundet Mitleid, ehe er Strafgerichte verhängt. Er lehrte Israel, die Edomiter zu schonen, bevor er sie aufforderte, Kanaans Einwohner auszurotten. PP 403.4

Die Vorfahren Edoms und Israels waren Brüder. Zwischen ihnen sollte deshalb auch brüderliche Freundlichkeit und Höflichkeit herrschen. Den Israeliten wurde sogar untersagt, weder jetzt noch in der Zukunft die Beleidigung zu vergelten, die die Edomiter ihnen zufügten, als man den Durchzug verweigerte. Sie sollten auch nicht damit rechnen, jemals einen Teil des Landes Edom zu besitzen. Als Gottes auserwähltes, begnadetes Volk mußten sie die ihnen auferlegten Einschränkungen sorgfältig beachten. Gott hatte ihnen ein beträchtliches Erbe verheißen; aber sie sollten nicht denken, daß sie allein Ansprüche auf Erden hätten und alle andern beiseite drängen dürften. Ihnen wurde befohlen, sich im Umgang mit den Edomitern vor jedem Unrecht zu hüten. Sie sollten wohl mit ihnen Handel treiben, indem sie die benötigten Lebensmittel erwarben und alles Empfangene sofort bezahlten. Als Ermutigung, ihm zu vertrauen und seinem Wort zu gehorchen, erinnerte Gott sie daran: “Der Herr, dein Gott, hat dich gesegnet ... An nichts hast du Mangel gehabt.” 5.Mose 2,7. Sie waren keineswegs abhängig von den Edomitern, denn sie hatten einen an Mitteln reichen Gott. Sie sollten sich auch nichts mit Gewalt oder Betrug anzueignen suchen. Im Umgang mit ihnen galt es, das göttliche Gesetz vorzuleben: “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” 3.Mose 19,18. PP 404.1

Wären sie mit dieser Einstellung durch Edom gezogen, wie Gott es beabsichtigte, hätte der Durchzug nicht nur für sie, sondern auch für die Bewohner des Landes segensreich werden können. Er hätte ihnen nämlich Gelegenheit geboten, Gottes Volk und seinen Gottesdienst kennenzulernen und zu erfahren, wie der Gott Jakobs denen Wohlergehen schenkte, die ihn liebten und fürchteten. All das verhinderte Israels Unglaube. Gott spendete ihnen auf ihr Jammern hin Wasser, aber er ließ zu, daß sie sich durch ihren Kleinglauben selbst schadeten. Wieder mußten sie die Wüste durchqueren und ihren Durst aus der wundersamen Quelle stillen, die nicht länger nötig gewesen wäre, wenn sie nur Gott vertraut hätten. PP 404.2

Also wandte sich die große Schar Israels wieder südwärts und suchte ihren Weg durch öde Wüste, die jedoch nach dem flüchtigen Blick auf die grünenden Flächen zwischen Edoms Bergen und Tälern noch viel trostloser erschien. Aus der Gebirgskette, die diese trübselige Öde überragte, erhob sich der Berg Hor. Auf seinem Gipfel sollte Aaron sterben und begraben werden. Als die Israeliten hierher kamen, richtete Gott an Mose den Befehl: “Nimm Aaron und seinen Sohn Eleasar und führe sie auf den Berg Hor und zieh Aaron seine Kleider aus und zieh sie seinem Sohn Eleasar an. Und Aaron soll dort zu seinen Vätern versammelt werden und sterben.” 4.Mose 20,25.26. PP 405.1

Miteinander stiegen die beiden alten Männer und der jüngere mühsam den Berg hinauf. Moses und Aarons Häupter waren nach 120 Lebensjahren weiß wie Schnee. In ihrem langen, ereignisreichen Dasein hatten sie die schwersten Prüfungen und die höchsten Ehren erfahren, die je einem Menschen zuteil wurden. Sie waren Männer mit großen Fähigkeiten, die alle Kräfte durch den Umgang mit dem Unendlichen entfaltet und veredelt hatten. Ihr ganzes Leben war selbstloser Dienst für Gott und an den Mitmenschen gewesen. Ihre Gesichtszüge zeugten von großer Geisteskraft und Entschlossenheit, von Gesinnungsadel und starkem Gefühlsleben. PP 405.2

Viele Jahre hatten Mose und Aaron in Sorge und Mühe Seite an Seite gestanden. Gemeinsam hatten sie zahllosen Gefahren getrotzt und gemeinsam überwältigende Segnungen Gottes empfangen. Nun war die Zeit gekommen, da sie sich trennen mußten. Sehr langsam stiegen sie hinauf, denn jeder Augenblick des Beisammenseins war kostbar. Es ging steil und mühselig nach oben; und da sie oft innehielten, um auszuruhen, sprachen sie über Vergangenheit und Zukunft. So weit das Auge reichte, erstreckte sich vor ihnen das Gebiet ihrer Wüstenwanderung. Unten in der Ebene lagerte das riesige Israel, für das sich diese erwählten Männer in den besten Jahren ihres Lebens verausgabten, dessen Wohlergehen sie sich stets angelegen sein ließen und für das sie so große Opfer gebracht hatten. Irgendwo hinter den Bergen Edoms lag der Weg, der in das verheißene Land führte, dessen Segnungen Mose und Aaron nicht genießen sollten. Aber in ihren Herzen war kein Aufbegehren, kein Murren entschlüpfte ihren Lippen; doch lag ernste Trauer auf ihren Gesichtern, wenn sie daran dachten, was sie vom Erbe ihrer Väter ausschloß. PP 405.3

Aarons Werk für Israel war getan. Vierzig Jahre zuvor hatte Gott ihn im Alter von dreiundachtzig Jahren zusammen mit Mose zu seiner bedeutungsvollen Aufgabe berufen. Mit seinem Bruder hatte er die Kinder Israel aus Ägypten geführt. Er stützte Moses Hände, als das hebräische Heer gegen Amalek kämpfte. Er durfte mit auf den Berg Sinai steigen, der Gegenwart Gottes nahen und seine Herrlichkeit schauen. Der Herr hatte Aarons Familie das Priestertum übertragen und ihn zum Hohenpriester geweiht. Er verteidigte ihn in seinem heiligen Amt durch das schreckliche Gottesgericht, mit dem er Korah und dessen Anhänger vertilgte. Durch Aarons Fürsprache wurde der Plage Einhalt geboten. Als seine beiden Söhne starben, weil sie Gottes ausdrücklichen Befehl mißachtet hatten, begehrte er nicht auf, er murrte nicht einmal. Und doch ist seine sonst so vortreffliche Lebensgeschichte stark beeinträchtigt worden. Aaron versündigte sich schwer, als er am Sinai den Klagen des Volkes nachgab und das goldene Kalb goß; die zweite schwere Sünde war sein und Mirjams Neid auf Mose, als sie gegen ihn murrten. Gemeinsam mit Mose erzürnte er den Herrn dann bei Kadesch, als er dem Befehl, mit dem Felsen zu reden, damit er Wasser gäbe, nicht gehorchte. PP 406.1

Gott wollte, daß diese beiden hervorragenden Verantwortungsträger seines Volkes stellvertretend auf Christus wiesen. Aaron trug Israels Namen auf seiner Brust. Er teilte dem Volk den Willen Gottes mit. Am Versöhnungstage betrat er als Mittler ganz Israels das Allerheiligste “nicht ohne Blut”. Hebräer 9,7. Nach dieser Handlung trat er wieder heraus und segnete die Gemeinde, so wie Christus kommen wird, um die auf ihn wartenden Gläubigen zu segnen, wenn sein Versöhnungswerk abgeschlossen ist. Gerade diese Erhabenheit seiner heiligen Amtstätigkeit als Vertreter unseres großen Hohenpriesters machte Aarons Sünde bei Kadesch so schwer. PP 406.2

Zutiefst betrübt nahm Mose Aaron die heiligen Gewänder ab und legte sie Eleasar an, der so durch göttliche Berufung dessen Nachfolger wurde. Wegen der eben genannten Schuld bei Kadesch blieb es Aaron versagt, als Hoherpriester in Kanaan zu amtieren, das erste Opfer im Gelobten Lande darzubringen und auf diese Weise Israels Erbe zu weihen. Mose mußte seine Bürde weiterhin tragen und das Volk bis unmittelbar an die Grenze Kanaans führen. Dann sollte er das verheißene Land sehen, aber betreten durfte er es nicht. Hätten diese Diener Gottes vor dem Felsen bei Kadesch die Probe widerspruchslos bestanden, wie ganz anders hätte sich ihre Zukunft gestaltet! Keine unrechte Tat läßt sich ungeschehen machen. So kann es kommen, daß ein ganzes Lebenswerk nicht aufzuwiegen vermag, was in einem einzigen Augenblick der Versuchung oder der Gedankenlosigkeit verlorenging. PP 406.3

Die Abwesenheit der beiden Führerpersönlichkeiten und der Umstand, daß Eleasar sie begleitete, von dem man wohl wußte, daß er Aarons Nachfolger im heiligen Dienst werden sollte, weckte allgemein Befürchtungen. Unruhig wartete man auf ihre Rückkehr. Als die Israeliten sich unter ihrer großen Schar umschauten, wurden sie gewahr, daß fast alle Erwachsenen, die einst aus Ägypten gezogen waren, in der Wüste umgekommen waren. Da überfiel sie die Ahnung von Unheil, weil sie an das über Mose und Aaron gesprochene Urteil dachten. Manche wußten auch von dem Zweck jener geheimnisvollen Wanderung zum Berge Hor, und die Sorge um sie wurde noch gesteigert durch schmerzliche Erinnerungen und Selbstanklagen. PP 407.1

Endlich erkannten sie Mose und Eleasar, wie sie langsam den Berg herabstiegen. Aber Aaron war nicht bei ihnen. Eleasar trug die priesterlichen Gewänder. Damit wurde deutlich, daß er seines Vaters Nachfolger im heiligen Dienst geworden war. Als sich das Volk niedergedrückt um sie versammelte, erzählte ihnen Mose, daß Aaron auf dem Berge Hor in seinen Armen verschieden sei und sie ihn dort begraben hätten. Da brach die ganze Gemeinde in lautes Wehklagen aus, denn alle hatten Aaron lieb, wenn sie ihm auch oft Kummer bereitet hatten. Sie “beweinten ihn dreißig Tage, das ganze Haus Israel”. 4.Mose 20,29. PP 407.2

Über das Begräbnis des israelitischen Hohenpriesters sagt die Heilige Schrift schlicht: “Dort starb Aaron und wurde daselbst begraben.” 5.Mose 10,6. In welch auffallendem Gegensatz zu den jetzigen Bräuchen steht diese Bestattung, die nach der ausdrücklichen Verfügung Gottes vollzogen wurde. Heutzutage bietet die Beerdigung eines hochgestellten Mannes oft Anlaß zu übertriebenem Aufwand. Als Aaron starb, einer der besten Männer, die jemals gelebt haben, waren nur zwei der nächsten Angehörigen Zeugen seines Todes, und sie begruben ihn auch. Das einsame Grab auf dem Berge Hor blieb den Blicken Israels für immer verborgen. Mit dem großen Aufwand, der so oft wegen eines Toten entfaltet wird, und durch die großen Kosten, die entstehen, wenn ein Mensch der Erde übergeben wird, kann man Gott nicht ehren. PP 407.3

Ganz Israel trauerte um Aaron. Aber für niemand konnte der Verlust so schmerzlich sein wie für Mose. Aarons Tod gemahnte ihn zwangsläufig daran, daß auch sein Ende nahe war. Aber so kurz die Zeit seines Verweilens auf Erden noch sein mochte, er empfand den Verlust seines ständigen Gefährten tief. So viele Jahre hatte Aaron als einziger Freud und Leid, Hoffnungen und Befürchtungen mit ihm geteilt. Nun sollte Mose das Werk allein fortsetzen. Aber er wußte, daß Gott sein Verbündeter war, auf den er sich nun um so mehr stützte. PP 408.1

Bald nachdem die Israeliten den Berg Hor verlassen hatten, erlitten sie eine Niederlage gegen den kanaanitischen König Arad. Als sie Gott jedoch ernstlich baten, gewährte er ihnen seine Hilfe, und ihre Feinde wurden in die Flucht geschlagen. Aber anstatt dankbar und sich ihrer Abhängigkeit von Gott bewußt zu sein, machte dieser Sieg die Hebräer stolz und selbstsicher. Bald verfielen sie in die alte Neigung zu murren. Jetzt waren sie unzufrieden, weil sie nicht schon vor vierzig Jahren — unmittelbar nach ihrer Empörung bei dem Bericht der Kundschafter — nach Kanaan ziehen durften. Ihrer Meinung nach war die lange Wüstenreise eine unnötige Verzögerung; schon damals hätten sie ihre Feinde ebenso leicht besiegt wie heute. PP 408.2

Als sie ihre Wanderung nach Süden fortsetzten, führte sie der Weg durch ein heißes, sandiges Tal ohne jeden schattigen Platz und Pflanzenwuchs. Der Weg schien weit und war beschwerlich, sie waren müde und durstig. Und wieder einmal bestanden sie eine Glaubens- und Geduldsprobe nicht. Weil sie immer nur die Schattenseiten ihrer Erlebnisse sahen, entfernten sie sich innerlich mehr und mehr von Gott. Sie verloren den Blick für die Tatsache, daß ihnen die Reise um Edom herum erspart geblieben wäre, wenn sie nicht aufbegehrt hätten, als ihnen bei Kadesch das Wasser ausging. Gott plante Besseres für sie, und sie mußten eigentlich dankbar sein, daß er ihre Sünde so milde bestraft hatte. Statt dessen bildeten sie sich ein, sie könnten längst im Besitz des verheißenen Landes sein, wenn Gott und Mose sie nicht daran gehindert hätten. Nachdem sie sich selbst in Schwierigkeiten gebracht und ihr Los allesamt schwerer gemacht hatten, als Gott es vorhatte, schrieben sie nun all ihr Unglück ihm zu. So nährten sie bittere Gefühle über sein Handeln mit ihnen und waren schließlich mit allem unzufrieden. Ägypten erschien ihnen wieder angenehmer und begehrenswerter als die Freiheit und das Land, wohin Gott sie führte. PP 408.3

Als sie so der Unzufriedenheit nachhingen, fingen sie sogar an, erfahrene Wohltaten zu kritisieren. “Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, daß wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.” 4.Mose 21,4.5. PP 409.1

Gewissenhaft hielt Mose daraufhin dem Volke dessen große Sünde vor. Gottes Macht allein hatte es beschützt und geleitet “durch die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war”. 5.Mose 8,15. Täglich wurden die Israeliten durch ein göttliches Wunder auf ihrer Wanderung versorgt. Auf allen Wegen, die Gott sie führte, hatten sie Wasser gefunden, die Durstigen zu erquicken, und Brot vom Himmel, ihren Hunger zu stillen, dazu auch Frieden und Sicherheit unter der Wolkensäule am Tage und unter der Feuersäule in der Nacht. Engel dienten ihnen, wenn es felsige Berge hinaufging oder durch rauhe Wüstenpfade. Trotz aller ertragenen Beschwerden gab es keinen Kraftlosen in ihren Reihen. Ihre Füße waren auf der langen Wanderung nicht wund geworden, ihre Kleider nicht abgenutzt. Gott hatte die Raubtiere vor ihnen gezähmt und das giftige Gewürm des Waldes und der Wüste ferngehalten. Wenn sie nach allen diesen Liebesbeweisen Jahwes doch immer wieder klagten, würde der Herr ihnen seinen Schutz entziehen, bis sie seine barmherzige Fürsorge wieder schätzen lernten und sich in Reue und Demut erneut zu ihm kehrten. PP 409.2

Beschirmt von Gottes Macht, hatten sie die zahllosen Gefahren, die sie ständig umgaben, gar nicht wahrgenommen. In ihrer Undankbarkeit und ihrem Unglauben sahen sie dauernd den Tod voraus; nun ließ der Herr tatsächlich Tod über sie kommen. Die giftigen Schlangen, die die Wüste unsicher machten, nannte man feurige Schlangen wegen der furchtbaren Folgen ihres Bisses, der eine heftige Entzündung und schnellen Tod verursachte. Als Gott seine schützende Hand von den Kindern Israel zurückzog, wurden viele von diesen giftigen Tieren angegriffen und gebissen. PP 409.3

Nun herrschten Schrecken und Verwirrung im ganzen Lager. Fast in jedem Zelt gab es Sterbende oder Tote. Niemand war sicher. Oft zerrissen durchdringende Schreie die Stille der Nacht und verrieten neue Opfer. Alle bemühten sich eifrig um die Leidenden oder suchten mit verzweifelter Sorge die zu schützen, die noch nicht gebissen waren. Keine Klage kam jetzt über ihre Lippen. Wenn sie die gegenwärtigen Leiden mit den früheren Schwierigkeiten und Prüfungen verglichen, schienen diese nicht mehr der Rede wert zu sein. PP 410.1

Nun endlich demütigte sich das Volk vor Gott. Sie kamen mit ihrem Bekenntnis und ihrer dringenden Bitte zu Mose. “Wir haben gesündigt”, sagten sie, “daß wir wider den Herrn und wider dich geredet haben.” 4.Mose 21,7. Kurz zuvor hatten sie ihn noch angeklagt, daß er ihr schlimmster Feind sei und schuld an all ihrem Elend und ihrer Not habe. Aber sie hatten die Worte kaum ausgesprochen, da wußten sie, daß ihre Vorwürfe ungerecht waren. Sobald wirkliche Not über sie kam, flüchteten sie ja doch zu ihm als dem einzigen, der bei Gott für sie eintreten konnte. “Bitte den Herrn”, schrien sie verzweifelt, “daß er die Schlangen von uns nehme.” 4.Mose 21,7. PP 410.2

Auf göttlichen Befehl hin sollte Mose eine eherne Schlange schaffen, die den lebendigen gliche, und sie mitten unter dem Volk aufrichten. Auf sie sollten alle schauen, die gebissen waren, und Erleichterung finden. Mose führte den Auftrag aus, und durch das ganze Lager scholl die freudige Kunde, daß alle Gebissenen sie ansehen und dadurch leben könnten. Viele aber waren inzwischen gestorben. Und als Mose die Schlange an dem Pfahl emporhob, wollten manche nicht glauben, daß allein der Blick auf das metallene Bild sie heilte. Diese gingen durch ihr Mißtrauen zugrunde. Doch viele glaubten an die Vorsorge, die Gott getroffen hatte. Und eifrig bemühten sich Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, ihren leidenden und sterbenden Angehörigen dabei zu helfen, die verlöschenden Augen auf die Schlange zu richten. Wenn sie nur ein einziges Mal darauf sehen konnten, wurden sie völlig gesund, auch wenn sie schon schwach und dem Tode nahe gewesen waren. PP 410.3

Das Volk begriff sehr gut, daß es nicht an der ehernen Schlange lag, wenn bei denen, die sie anblickten, Besserung eintrat. Die heilende Kraft kam allein von Gott. In seiner Weisheit wählte er eben diesen Weg, um ihnen seine Macht zu zeigen. Durch dieses einfache Mittel erkannten sie, daß sie sich diese Plage aufgrund ihrer Sünden selbst zugezogen hatten. Sie erhielten aber auch die Zusicherung, daß sie sich nicht zu fürchten brauchten, solange sie Gott gehorchten, denn er würde sie bewahren. PP 410.4

Die Aufrichtung der ehernen Schlange sollte für die Israeliten sehr lehrreich sein. Sie konnten sich nämlich nicht selbst von dem tödlichen Gift in ihren Wunden retten. Gott allein vermochte sie zu heilen. Sie mußten aber an die Vorsorge, die er getroffen hatte, glauben und aufschauen, wenn sie leben wollten. Allein ihr Glaube konnte sie bei Gott angenehm machen, und sie bewiesen ihn, indem sie auf die Schlange sahen. Sie wußten wohl, daß ihr selbst keine Kraft innewohnte, daß sie aber ein Vorbild auf Christus war. Auf diese Weise lernten sie verstehen, daß Glaube an seine Verdienste notwendig ist. Bisher brachten viele Israeliten Gott Opfer dar und waren der Meinung, damit für ihre Vergehen reichlich gesühnt zu haben. Sie rechneten nicht mit dem kommenden Erlöser, auf den diese Opfer nur sinnbildlich hinwiesen. Darum wollte der Herr ihnen jetzt zeigen, daß ihre Opfer an sich nicht mehr Kraft hatten als die eherne Schlange. Sie sollten aber — genau wie diese auch — ihre Gedanken auf Christus, das von Gott ersehene große Sündopfer, lenken. PP 411.1

“Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat”, so mußte “des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.” Johannes 3,14.15. Alle, die je auf Erden lebten, haben den tödlichen Biß der “alten Schlange, die da heißt Teufel und Satan” (Offenbarung 12,9) zu spüren bekommen. Die unheilvolle Wirkung der Sünde kann nur durch die Vorsorge, die Gott traf, beseitigt werden. Die Israeliten retteten ihr Leben, wenn sie auf die erhöhte Schlange sahen. Jener Blick bedeutete Glauben. Sie lebten, weil sie dem Worte Gottes glaubten und zuversichtlich auf die Hilfe zu ihrer Genesung vertrauten. So kann der Sünder auf Christus blicken und leben. Er empfängt Vergebung durch den Glauben an das Versöhnungsopfer. Aber im Gegensatz zu dem leblosen Sinnbild besitzt Christus Macht und Kraft, dem reuigen Sünder zu helfen. Der Sünder kann sich zwar nicht selbst retten, muß aber doch etwas zu seinem Heil beitragen. “Wer zu mir kommt”, sagt Christus, “den werde ich nicht hinausstoßen.” Johannes 6,37. Aber wir müssen zu ihm kommen und wenn wir unsere Sünden bereuen, auch glauben, daß er uns annimmt und vergibt. Wohl ist der Glaube ein Geschenk Gottes, aber wir haben ihn anzuwenden. Er ist die Hand, mit der der Mensch die angebotene göttliche Gnade und Barmherzigkeit ergreift. PP 411.2

Nur die Gerechtigkeit Christi gibt uns ein Anrecht auf die Segnungen des Gnadenbundes. Viele Menschen haben sich lange Zeit nach ihnen gesehnt, sie erstrebt und doch nicht erlangt, weil sie die Vorstellung hatten, sie könnten selbst etwas dazu tun, um ihrer würdig zu werden. Sie haben nicht von sich weggesehen und geglaubt, daß Jesus als Erlöser umfassend wirksam ist. Aber wir dürfen nicht auf den Gedanken kommen, daß eigene Verdienste uns retten werden; unsere einzige Hoffnung auf Erlösung ist Christus. “In keinem andern ist das Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.” Apostelgeschichte 4,12. PP 412.1

Wenn wir zuversichtlich auf Gott hoffen und uns auf die Verdienste Jesu als eines sündenvergebenden Heilandes verlassen, werden wir allen Beistand empfangen, um den wir bitten. Niemand rechne damit, er könne sich aus eigener Kraft erlösen. Weil wir das nicht zu tun vermögen, starb Jesus für uns. In ihm haben wir Hoffnung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit. Erkennen wir unsere Sündhaftigkeit, dann sollten wir nicht verzagen und befürchten, keinen Erlöser zu haben — oder aber einen, der uns nicht gnädig gesinnt ist. Gerade in unserer Hilflosigkeit lädt Christus uns ein, zu ihm zu kommen, damit wir gerettet werden. PP 412.2

Viele Israeliten sahen in dem Heilmittel, das der Himmel ihnen anbot, keine Hilfe. Überall lagen Tote und Sterbende herum, die erkannten, daß ihr Verderben ohne göttliche Hilfe unvermeidlich war. Aber sie klagten weiter über ihre Wunden, ihre Schmerzen, ihren sicheren Tod, bis die Kräfte schwanden und ihre Augen brachen, obwohl sie sofort Heilung hätten finden können. Sind wir uns unserer Mängel bewußt, sollten wir nicht all unsere Kraft damit verschwenden, sie zu beklagen. Erkennen wir unsere Hilflosigkeit ohne Christus, dürfen wir uns nicht entmutigen lassen, sondern auf die Verdienste des gekreuzigten und auferstandenen Heilandes bauen. Sieh auf und lebe! Jesus hat sein Wort verpfändet, daß er alle, die zu ihm kommen, errettet. Wenn auch Millionen, die Heilung so nötig hätten, seine angebotene Gnade zurückweisen werden, wird doch niemand verlorengehen, der Jesu Verdiensten Glauben schenkt. PP 412.3

Viele wollen Christus nicht eher annehmen, als bis ihnen das ganze Geheimnis des Erlösungsplanes auseinandergesetzt worden ist. Sie scheuen den gläubigen Blick auf das Kreuz Christi, obwohl sie feststellen, daß Tausende ihn wagten und seine wirkungsvolle Kraft verspürten. Viele schweifen im Irrgarten der Philosophie umher und suchen nach Vernunftgründen und Beweisen, die sie doch niemals finden werden, verwerfen jedoch das Zeugnis, das Gott in seiner Güte gab. Sie weigern sich, im Licht der Sonne der Gerechtigkeit zu leben, solange man ihnen nicht den Grund ihres Leuchtens erklärt hat. Wer bei dieser Gewohnheit bleibt, wird nie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen; denn Gott wird niemals alle Zweifelsanlässe beseitigen. Er gibt Beweise genug, auf denen der Glaube sich gründen kann. Läßt man sie nicht gelten, bleibt der Mensch geistig blind. Wenn die von den Schlangen Gebissenen sich mit Zweifeln und Fragen aufgehalten hätten, statt sich zum Aufschauen zu entschließen, wären sie umgekommen. Wir müssen zuerst hinsehen; dann wird der Blick des Glaubens uns Leben schenken. PP 413.1