Auf der Grundlage von Apostelgeschichte 24.
Fünf Tage nach der Ankunft des Paulus in Cäsarea trafen seine Verkläger aus Jerusalem dort ein, begleitet von Tertullus, einem Redner, den sie sich zum Anwalt genommen hatten. Der Fall kam schnell zur Verhandlung. Paulus wurde vor die Versammelten gebracht, und dann “fing Tertullus an, ihn zu verklagen”. In der Meinung, daß er durch Schmeicheleien einen stärkeren Eindruck auf den römischen Landpfleger machen würde als durch eine sachliche Darlegung des Sachverhalts, gegründet auf Wahrheit und Gerechtigkeit, begann der verschlagene Anwalt seine Ausführungen mit einem Lobpreis auf Felix: “Daß wir in großem Frieden leben unter dir und viel Wohltaten diesem Volk widerfahren durch deine Fürsorge, edelster Felix, das erkennen wir an allewege und allenthalben mit aller Dankbarkeit.” Apostelgeschichte 24,2.3. WA 415.1
Tertullus ließ sich hier zu einer schamlosen Lüge verleiten, denn der Landpfleger Felix war von niedriger, verabscheuungswerter Gesinnung. Von ihm hieß es, daß er “in jeder Art von Tyrannei und Willkür Königsrecht mit Sklavenlaune übte”. (Tacitus, Die Historien, V, 9.) Die Tertullus zuhörten, wußten, daß seine Schmeicheleien Lügen waren; aber ihr Verlangen Paulus verurteilt zu sehen, war stärker als ihre Liebe zur Wahrheit. WA 415.2
In seiner Rede legte Tertullus dem Paulus Verbrechen zur Last, die eine Verurteilung wegen Hochverrats zur Folge gehabt hätten, wären sie nachweisbar gewesen. “Wir haben”, erklärte er mit Pathos, “diesen Mann erfunden als eine Pest und als einen, der Aufruhr erregt unter allen Juden auf dem ganzen Erdboden, und als einen Anführer der Sekte der Nazarener. Er hat auch versucht, den Tempel zu entweihen.” Apostelgeschichte 24,5.6. Dann behauptete Tertullus, Lysias, der Befehlshaber der Garnison in Jerusalem, habe Paulus mit Gewalt den Juden entrissen, als sie ihn gerade nach ihrem Kirchenrecht richten wollten. Dadurch seien sie gezwungen worden, die Sache vor Felix zu bringen. Diese Aussagen sollten den Landpfleger veranlassen, Paulus an den jüdischen Gerichtshof auszuliefern. Alle Anklagen wurden von den anwesenden Juden leidenschaftlich unterstützt. Sie bemühten sich überhaupt nicht, ihren Haß auf den Gefangenen zu verbergen. WA 415.3
Doch Felix besaß genügend Scharfsinn, um die Gesinnung und das Wesen der Ankläger des Apostels zu durchschauen. Er wußte, aus welchen Beweggründen sie ihm geschmeichelt hatten, und erkannte auch, daß sie ihre Anklagen gegen Paulus nicht hätten begründen können. Nun forderte er den Angeklagten auf, sich selbst zu verantworten. Paulus vergeudete kein Wort auf bloße Höflichkeiten, sondern sagte schlicht und einfach, daß er sich um so freudiger vor Felix verteidigen könne, da dieser schon längere Zeit Landpfleger sei und deshalb ein gutes Verständnis für die jüdischen Gesetze und Gebräuche habe. “Sie haben mich”, sagte er, “weder im Tempel noch in den Synagogen noch in der Stadt gefunden mit jemand streiten oder einen Aufruhr machen im Volk. Sie können dir auch nicht beweisen, dessen sie mich verklagen.” Apostelgeschichte 24,12.13. WA 416.1
Während er bekannte, daß er “nach der Lehre, die sie eine Sekte heißen”, dem Gott seiner Väter diene, versicherte er zugleich, daß er immer geglaubt habe “allem, was geschrieben steht im Gesetz und in den Propheten”. Apostelgeschichte 24,14. In Übereinstimmung mit den klaren Lehren der Schrift halte er am Glauben an die Auferstehung der Toten fest. Weiter erklärte er, daß es der oberste Grundsatz seines Lebens sei, “zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben gegen Gott und die Menschen.” Apostelgeschichte 24,16. WA 416.2
Offen und ohne Umschweife berichtete er von dem Zweck seines Besuchs in Jerusalem sowie von den Umständen, die zu seiner Verhaftung und zum Verhör geführt hatten. “Nach mehreren Jahren aber bin ich gekommen, um Almosen für mein Volk zu bringen und zu opfern. Dabei haben mich, wie ich mich gereinigt hatte im Tempel ohne allen Lärm und Getümmel, etliche Juden aus der Landschaft Asien gefunden, welche sollten hier sein vor dir und mich verklagen, wenn sie etwas wider mich hätten. Oder laß diese hier selbst sagen, was für ein Unrecht sie gefunden haben, als ich stand vor dem Hohen Rat; es wäre denn dies eine Wort, da ich unter ihnen stand und rief: Um der Auferstehung der Toten willen werde ich von euch heute angeklagt.” Apostelgeschichte 24,17-21. WA 417.1
Der Apostel sprach mit Entschiedenheit und unverkennbarer Aufrichtigkeit; seine Worte wirkten überzeugend. Klaudius Lysias hatte in seinem Brief an Felix dem Apostel ein ähnliches Zeugnis über dessen Verhalten ausgestellt. Überdies kannte Felix die jüdische Religion besser, als viele vermuteten. Durch die schlichte Darlegung der Tatsachen, wie sie Paulus gab, gewann Felix einen noch besseren Einblick in die Beweggründe, von denen sich die Juden bei dem Versuch leiten ließen, den Apostel des Aufruhrs und des Verrats für schuldig zu erklären. Der Landpfleger konnte ihnen nicht die Gefälligkeit erweisen, einen römischen Bürger ungerechterweise zu verurteilen; genausowenig wollte er ihnen Paulus ausliefern, damit sie ihn ohne rechtmäßiges Gerichtsverfahren umbrächten. Dennoch kannte Felix keinen höheren Beweggrund als seinen persönlichen Vorteil. Ihn beherrschte das Verlangen nach Anerkennung und Vorwärtskommen. Die Furcht, die Juden zu beleidigen, hinderte ihn schließlich daran, einem Manne volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, von dessen Unschuld er überzeugt war. Deshalb beschloß er, die Gerichtsverhandlung zu vertagen, bis Lysias anwesend sein könne. “Wenn Lysias, der Oberhauptmann, herabkommt, so will ich eure Sache entscheiden.” Apostelgeschichte 24,22. WA 417.2
Damit blieb der Apostel ein Gefangener. Felix befahl lediglich dem Hauptmann, der für Paulus verantwortlich war, ihn “in leichtem Gewahrsam” zu behalten, und “daß er niemand von den Seinen wehrte, ihm zu dienen.” Apostelgeschichte 24,23. WA 418.1
Nicht lange darauf ließen Felix und seine Frau Drusilla Paulus kommen, um in einem vertraulichen Gespräch etwas “über den Glauben an Christus Jesus” (Apostelgeschichte 24,24) zu hören. Sie waren willig, ja sogar begierig, diese neuen Lehren zu hören — Wahrheiten, die sie möglicherweise nie wieder hören, und die am Jüngsten Tag gegen sie zeugen würden, wenn sie sie verwarfen. WA 418.2
Paulus betrachtete dies als eine ihm von Gott gegebene Gelegenheit, die er auch treulich ausnutzte. Er wußte sehr wohl, daß er sich in der Gegenwart dessen befand, der Macht hatte, ihn zum Tode zu verurteilen oder ihm die Freiheit zu schenken. Dennoch richtete er keine Lob- und Schmeichelworte an Felix und Drusilla. Er wußte, daß seine Worte für sie ein Geruch zum Leben oder zum Tode sein würden. Deshalb stellte er alle selbstsüchtigen Erwägungen beiseite und suchte ihnen die Gefahr, in der sie standen, bewußt zu machen. WA 418.3
Der Apostel vergegenwärtigte sich, daß das Evangelium an alle, die es vernehmen, Forderungen stellt, so daß sie eines Tages entweder zu den Reinen und Heiligen gehören, die den großen, weißen Thron umstehen, oder zu denen, an die Christus das Wort richtet: “Weichet von mir, ihr Übeltäter!” Matthäus 7,23. Er wußte, vor dem himmlischen Gericht würde er jedem einzelnen seiner Zuhörer gegenübergestellt werden, um Rechenschaft abzulegen nicht nur über das, was er gesagt und getan hatte, sondern auch über den Geist und die Beweggründe, denen seine Worte und Taten entsprungen waren. WA 418.4
Felix war bisher so gewalttätig und grausam gewesen, daß nur wenige gewagt hätten, ihm gegenüber auch nur anzudeuten, daß sein Charakter und sein Verhalten nicht einwandfrei seien. Paulus aber kannte keine Menschenfurcht. Frei bezeugte er seinen Glauben an Christus und legte die Gründe für diesen Glauben dar. Das veranlaßte ihn zugleich, von den Tugenden zu sprechen, die für einen christlichen Charakter unabdingbar sind, die aber dem stolzen Paar völlig fehlten. WA 419.1
Paulus hielt Felix und Drusilla das Wesen Gottes vor Augen; seine Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Unparteilichkeit sowie das Wesen seines Gesetzes. Klar zeigte er ihnen, daß es jedes Menschen Pflicht sei, sich eines nüchternen, enthaltsamen Lebens zu befleißigen, seine Neigungen durch die Vernunft dem Gesetz Gottes zu unterwerfen und die körperlichen und geistigen Kräfte gesund zu erhalten. Ferner erklärte er, daß ganz bestimmt mit dem “zukünftigen Gericht” zu rechnen sei, an dem alle Menschen nach den Werken, die sie zu Lebzeiten getan haben, ihren Lohn empfangen würden. Dann werde offenbar werden, daß Reichtum, Stellung und Titel dem Menschen nicht Gottes Wohlgefallen erwirken und ihn auch nicht von den Folgen der Sünde befreien können. Er zeigte, daß dieses Leben für den Menschen eine Zeit der Vorbereitung auf das künftige Leben sei. Wer die ihm gegebenen Möglichkeiten mißachte, werde ewigen Verlust erleiden, da ihm keine neue Gnadenzeit gewährt würde. WA 419.2
Besonders eindringlich sprach Paulus von den weitreichenden Forderungen des Gesetzes Gottes. Er zeigte auf wie es bis in die tiefste Verborgenheit des sittlichen Lebens eindringt und einen hellen Lichtstrahl auf das wirft, was vor den Augen und der Kenntnis anderer verborgen ist. Was immer die Hände tun mögen oder was die Zunge aussprechen mag, überhaupt alles was das äußere Leben ausmacht, stellt den menschlichen Charakter nur unvollkommen dar. Das Gesetz aber erforscht die Gedanken, Beweggründe und Absichten. Es verurteilt die geheimen Regungen, die dem menschlichen Blick verborgen sind, zum Beispiel Eifersucht, Haß und Ehrgeiz, sowie die argen Gedanken, mit denen man sich im stillen abgibt, die nur aus Mangel an Gelegenheit niemals ausgeführt werden. WA 419.3
Paulus bemühte sich, die Gedanken seiner Zuhörer auf das eine große Opfer für die Sünder zu lenken. Zunächst wies er auf die Opfer hin, die nur ein Abglanz zukünftiger Güter waren, und zeigte dann, wie in Christus alle Opfervorschriften ihre Erfüllung fänden, da sie auf ihn als die einzige Quelle des Lebens und der Hoffnung für die gefallene Menschheit hinwiesen. Auch die heiligen Männer vor alters seien allein durch den Glauben an Christi Blut erlöst worden. Beim Anblick des Todeskampfes der Opfertiere schauten sie über die Jahrhunderte hinweg auf Gottes Lamm, das der Welt Sünde tragen sollte. WA 420.1
Gott hat mit Recht Anspruch auf die Liebe und den Gehorsam seiner Geschöpfe. Mit seinem Gesetz hat er ihnen einen vollkommenen Maßstab für das gegeben, was recht ist. Aber viele vergessen ihren Schöpfer und ziehen es vor, entgegen seinem Willen ihre eigenen Wege einzuschlagen. Mit Feindschaft erwidern sie eine Liebe, die so hoch wie der Himmel und so weit wie das Weltall ist. Gott kann aber die Forderungen seines Gesetzes nicht herabsetzen, um einer gottlosen Menschheit entgegenzukommen. Der Mensch wiederum kann nicht aus eigener Kraft den Forderungen des Gesetzes gerecht werden. Nur durch den Glauben an Christus kann der Sünder von aller Schuld gereinigt werden und die Kraft erhalten, den Geboten seines Schöpfers gehorsam zu sein. WA 420.2
So trat Paulus auch als Gefangener für die Forderungen ein, die das göttliche Gesetz sowohl den Juden als auch den Griechen stellt, und verkündigte Jesus, den verachteten Nazarener, als den Sohn Gottes, den Erlöser der Welt. WA 420.3
Die jüdische Fürstin wußte genau um die Heiligkeit des Gesetzes, das sie schamlos übertreten hatte, doch ihr Vorurteil gegenüber dem Mann von Golgatha verhärtete ihr Herz auch gegenüber dem Wort des Lebens. Aber Felix, der die Wahrheit noch nie vernommen hatte, wurde unter dem überzeugenden Einfluß des Geistes Gottes tief in seinem Innern bewegt. Sein erwachtes Gewissen regte sich, und Felix empfand die Wahrheit der Worte des Paulus. Er erinnerte sich an seine schuldhafte Vergangenheit. Mit erschreckender Deutlichkeit tauchten vor ihm die geheimen Geschehnisse seines früheren lasterhaften Lebens auf das mit Blut befleckt war, sowie die ununterbrochene Kette schwerer Untaten in den späteren Jahren. Er erkannte, wie ausschweifend, grausam und habgierig er war. Nie zuvor war ihm das so deutlich geworden, war sein Herz so von Entsetzen gepackt worden. Der Gedanke, daß alle Geheimnisse seines verbrecherischen Lebens vor dem Auge Gottes aufgedeckt seien und daß er nach seinen Werken gerichtet werden solle, ließ ihn vor Furcht erzittern. WA 421.1
Statt sich aber durch sein Schuldgefühl zur Buße leiten zu lassen, suchte er sich dieser unwillkommenen Entscheidung zu entziehen. Er brach die Unterredung ab. “Gehe hin für diesmal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich wieder rufen lassen.” Apostelgeschichte 24,25. WA 421.2
Welch ein Unterschied bestand doch zwischen dem Verhalten des Landpflegers und des Kerkermeisters zu Philippi! So wie jetzt Paulus vor Felix, so waren damals die Boten Gottes gefesselt vor den Kerkermeister gebracht worden. Die Beweise göttlicher Kraft, die sie brachten, ihre Freudigkeit trotz Leiden und Schmach, ihre Furchtlosigkeit, als ein Beben die Erde erschütterte, und ihre christliche Vergebungsbereitschaft, all das hatte den Kerkermeister überzeugt, so daß er zitternd seine Sünden bekannte und Vergebung empfing. Auch Felix zitterte, aber er bereute nicht. Während der Kerkermeister den Geist Gottes freudig in sein Herz und Heim aufnahm, schickte Felix den Gottesboten fort. Der eine wurde ein Kind Gottes und Erbe des Himmels, der andere erwählte das Geschick aller Übeltäter. WA 421.3
Zwei Jahre hindurch wurde nichts gegen Paulus unternommen; dennoch blieb er gefangen. Felix besuchte ihn mehrere Male und hörte ihm aufmerksam zu. Der eigentliche Beweggrund für die scheinbare Freundlichkeit war jedoch sehr selbstsüchtig. Er machte Andeutungen, Paulus könnte gegen Entrichtung einer größeren Geldsumme die Freiheit erlangen. (Apostelgeschichte 24,26). Paulus jedoch war zu ehrlich, um seine Freiheit durch Bestechung zu erkaufen. Er war keines Verbrechens schuldig, und so wollte er sich auch nicht dazu hergeben, durch ein Unrecht die Freiheit zu erlangen. Außerdem war er zu arm, um ein Lösegeld zahlen zu können, selbst wenn er es gewollt hätte. Das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft der Gemeinden wollte er erst recht nicht in Anspruch nehmen. Außerdem wußte er sich in Gottes Hand und wollte nicht verhindern, was Gott über ihn beschlossen hatte. WA 422.1
Felix wurde schließlich wegen grober Verfehlungen gegenüber den Juden nach Rom gerufen. Ehe er Cäsarea verließ, um dieser Vorladung nachzukommen, wollte er “den Juden eine Gunst erzeigen” (Apostelgeschichte 24,27) und ordnete an, daß Paulus im Gefängnis verblieb. Dennoch vermochte er das Vertrauen der Juden nicht wiederzugewinnen. Er fiel in Ungnade und wurde seines Amtes enthoben. Zu seinem Nachfolger wurde Porcius Festus berufen, der seinen Hauptsitz in Cäsarea aufschlug. WA 422.2
Ein Strahl himmlischen Lichts war auf Felix gefallen, als Paulus mit ihm “von Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und von dem zukünftigen Gericht” gesprochen hatte. Der Himmel hatte ihm die Gelegenheit gegeben, seine Sünden zu erkennen und zu lassen. Aber Felix hatte zu dem Boten Gottes gesagt: “Gehe hin für diesmal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich wieder rufen lassen.” Damit hatte er das letzte Angebot göttlicher Gnade ausgeschlagen, und nie wieder sollte ein Ruf Gottes an ihn ergehen. WA 422.3