Das Evangelium hat von jeher seine größten Erfolge unter den einfachen Bevölkerungsschichten erzielt. “Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht viele Edle sind berufen.” 1.Korinther 1,26. Daher war auch nicht zu erwarten, daß Paulus als ein armer Gefangener ohne Freunde imstande sein würde, die Aufmerksamkeit der wohlhabenden und einflußreichen Kreise Roms auf sich zu ziehen. Ihnen zeigte sich die Weltstadt mit ihren Lastern von der verlockendsten Seite, und sie ließen sich widerstandslos gefangennehmen. Aber jene, die das Opfer von Willkür und Bedrückung waren, die hart arbeiten mußten und Not litten oder als Sklaven ihr Leben fristeten, lauschten freudig den Worten des Paulus. Sie fanden im Glauben an Christus eine Hoffnung und einen Frieden, der sie trotz ihres beschwerlichen Loses froh werden ließ. WA 457.1
Wenn auch das Werk des Apostels zunächst unter den Einfachen und Bedrückten seinen Anfang nahm, gewann es doch immer mehr Einfluß, der schließlich sogar den Palast des Kaisers erreichte. WA 457.2
Rom war damals die Hauptstadt der Welt. Die stolzen Cäsaren erließen Gesetze für fast alle Völker auf Erden. Kaiser und Hofbeamte wußten entweder nichts von dem demütigen Nazarener, oder sie betrachteten ihn mit Feindseligkeit und Spott. Und doch fand das Evangelium, das von der bescheidenen Unterkunft des Gefangenen ausging, in weniger als zwei Jahren Eingang in die kaiserlichen Gemächer. Paulus lag zwar in Haft wie ein Übeltäter, “aber Gottes Wort ist nicht gebunden”. 2.Timotheus 2,9. WA 457.3
Einst hatte Paulus öffentlich mit Vollmacht den Glauben an Christus verkündigt und durch Zeichen und Wunder unleugbare Beweise der Göttlichkeit Christi gegeben. Mutig und entschlossen war er vor die Weisen Griechenlands getreten und hatte durch sein Wissen und seine Redegabe die Einwände der stolzen Philosophen zum Schweigen gebracht. Unerschrocken hatte er vor Königen und Statthaltern gestanden und wohldurchdacht von der Gerechtigkeit, der Selbstzucht und dem künftigen Gericht gesprochen, so daß die stolzen Herrscher schließlich zitterten, als nähmen sie die Schrecken des Tages des Herrn schon wahr. WA 458.1
Jetzt, da der Apostel lediglich auf seine Unterkunft angewiesen war und nur denen die Wahrheit verkündigen konnte, die zu ihm kamen, boten sich ihm keine derartigen Gelegenheiten mehr. Er hatte nicht, wie einst Mose und Aaron, den Auftrag von Gott erhalten, vor den ruchlosen Kaiser hinzutreten und im Namen des großen “Ich bin” (2.Mose 3,14, Zürcher) seine Grausamkeit und Gewalttätigkeit zu bestrafen. Und doch wurde gerade zu dieser Zeit, als der bedeutendste Verfechter des Evangeliums von aller öffentlichen Arbeit so gut wie abgeschnitten war, ein großer Sieg für das Evangelium errungen, denn sogar aus dem Hause des Kaisers wurden der Gemeinde Glieder hinzugefügt. WA 458.2
Dabei hätte man sich kaum eine Umgebung denken können, die dem Christentum abträglicher gewesen wäre als die des römischen Hofes. Es schien, als ob Nero aus seiner Seele die letzte Spur des Göttlichen, ja selbst des Menschlichen ausgelöscht und dafür Satans Wesen angenommen hätte. Sein Gefolge und seine Höflinge waren im allgemeinen nicht anders als er: zügellos, verkommen und verdorben. So schien es für das Christentum unmöglich, am Hof und im Palast Neros Fuß zu fassen. WA 458.3
Doch wie in manch anderem Fall erwies sich auch hier des Paulus Behauptung als Wahrheit, daß die Waffen, mit denen wir kämpfen, “mächtig im Dienste Gottes” sind, “zu zerstören Befestigungen”. 2.Korinther 10,4. Sogar in Neros Haus errang das Kreuz seine Siege. Von dem lasterhaften Gefolge eines noch lasterhafteren Fürsten bekehrten sich einige und wurden Gottes Kinder. Sie waren nicht nur im geheimen Christen, sondern bekannten sich öffentlich zu ihrem Herrn und schämten sich ihres Glaubens nicht. WA 459.1
Wodurch konnte das Christentum dort Eingang finden und festen Fuß fassen, da doch bereits seine bloße Duldung unmöglich schien? In seinem Brief an die Philipper nennt Paulus es eine Frucht seiner Gefangenschaft, daß sich einige aus dem Hause Neros zum Glauben bekehrt haben. Weil er befürchtete, sie könnten annehmen, durch seine Leiden würde der Fortschritt des Evangeliums behindert, versicherte er: “Ich lasse euch aber wissen, liebe Brüder: wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten.” Philipper 1,12. WA 459.2
Als die Christengemeinden erfuhren, daß Paulus Rom besuchen werde, erwarteten sie zuerst einen bedeutenden Sieg des Evangeliums in dieser Stadt. Paulus hatte die göttliche Wahrheit bereits in viele Länder getragen und in vielen großen Städten verkündigt. Sollte es diesem Kämpfer des Glaubens nicht auch in der Hauptstadt der Welt gelingen, Menschen für Christus zu gewinnen? WA 459.3
Ihre Hoffnung war jedoch geschwunden, als sie erfuhren, daß Paulus als Gefangener nach Rom gekommen war. Zuversichtlich hatten sie erwartet, daß das Evangelium, wenn es erst einmal in dieser Weltstadt Eingang gefunden habe, rasch zu allen Völkern dringen und sich zu einer vorherrschenden Macht entfalten werde. Wie groß war ihre Enttäuschung! Nun, menschliche Erwartungen mögen fehlschlagen, doch Gottes Absichten sind damit noch lange nicht vereitelt. WA 459.4
Nicht durch seine Predigten, sondern durch seine Fesseln lenkte Paulus die Aufmerksamkeit des Hofes auf den christlichen Glauben. Selber ein Gefangener, befreite er viele von den Fesseln mit denen die Sünde sie gefangen hielt. Doch damit nicht genug; er erklärte: “Viele Brüder in dem Herrn haben aus meiner Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind desto kühner geworden, Gottes Wort zu reden ohne Scheu.” Philipper 1,14. WA 460.1
Die Geduld und Freudigkeit des Paulus während seiner langen Haft, sein Mut und sein Glaube waren eine ständige Predigt. Seine Geisteshaltung, so ganz anders als die der Welt, legte Zeugnis davon ab, daß eine höhere Macht als eine irdische in ihm wohnte. Durch sein Beispiel wurden die Christen angespornt, des Herrn Sache mit größerem Eifer in der Öffentlichkeit zu vertreten, in der Paulus nun nicht mehr wirken konnte. So übten die Fesseln des Apostels einen nachhaltigen Einfluß aus. Wenn es auch so aussah, als wäre seine Kraft gebrochen und als könnte er nichts mehr tun, wurden doch Garben für Christus von den Feldern eingesammelt, die ihm völlig unzugänglich zu sein schienen. WA 460.2
Noch vor dem Ende dieser zweijährigen Gefangenschaft konnte Paulus sagen: “Daß ich meine Fesseln für Christus trage, das ist in dem ganzen Richthause und bei den andern allen offenbar geworden.” Philipper 1,13. Und unter denen, die den Philippern Grüße sandten, erwähnte er besonders “die von des Kaisers Hause.” Philipper 4,22. WA 460.3
Wie der Mut, so erringt auch die Geduld ihre Siege. Nicht nur durch kühnen Unternehmungsgeist, sondern auch durch geduldiges Ausharren in Anfechtungen können Menschen für Christus gewonnen werden. So kann ein Christ, der selbst bei schmerzlichem Verlust und im Leid Geduld und Zuversicht bekundet, ja sogar dem Tod in unerschütterlichem Glauben und mit innerem Frieden entgegensieht, für das Evangelium mehr ausrichten, als er durch ein langes Leben in treuer Arbeit hätte erreichen können. Oftmals mag, wenn ein Mitarbeiter Gottes aus seinem Wirken herausgerissen wird und wir in unserer menschlichen Kurzsichtigkeit dies beklagen, die göttliche Fügung in Wirklichkeit dazu dienen, ein Werk zu vollbringen, das auf andere Weise nicht hätte getan werden können. WA 460.4
Kein Nachfolger Christi sollte meinen, daß er nur so lange brauchbar sei und ihm ein Entgelt zustehe, wie er öffentlich und tatkräftig für Gott und seine Botschaft wirken kann. Christi treue Zeugen werden nie beiseitegestellt. Gott gebraucht sie ständig, in Gesundheit wie in Krankheit, im Leben und im Tod. Wurden Christi Knechte durch den Haß Satans verfolgt und in ihrer öffentlichen Tätigkeit behindert, warf man sie gar ins Gefängnis oder schleppte sie zum Schafott oder zum Scheiterhaufen, diente all dies doch dazu, der Wahrheit zu einem größeren Siege zu verhelfen. Besiegelten diese Getreuen ihr Zeugnis sogar mit ihrem Blut, entschieden sich oftmals Menschen, die bisher von Zweifel und Ungewißheit hin- und hergerissen wurden, für den Glauben an Christus und stellten sich mutig auf seine Seite. Der Asche der Märtyrer entsproß eine reiche Ernte für Gott. WA 461.1
Der Eifer und die Treue des Apostels Paulus und seiner Mitarbeiter sowie der Glaube und Gehorsam derer, die sich unter Schwierigkeiten zum Christentum bekehrten, erteilen aller Lauheit und allem Unglauben im Dienst für Christus einen Verweis. Paulus und seine Gefährten hätten sich sagen können, daß es vergeblich sei, die Bediensteten Neros zur Buße und zum Glauben an Christus zu rufen, waren sie doch schweren Versuchungen und heftigem Widerstand ausgesetzt sowie von furchtbaren Hindernissen umgeben. Selbst wenn sie von der Wahrheit überzeugt wären, wie könnten sie Gott gehorsam sein? Aber Paulus dachte nicht so. Im Glauben verkündigte er das Evangelium, und unter denen, die ihm zuhörten, gab es etliche, die sich zum Gehorsam um jeden Preis entschlossen. Ungeachtet aller Hindernisse und Gefahren wollten sie das Licht annehmen und darauf vertrauen, daß Gott ihnen helfen werde, es für andere leuchten zu lassen. WA 461.2
Es wandten sich nicht nur einige aus dem Hause des Kaisers der Wahrheit zu, sie blieben sogar nach ihrer Bekehrung am Hofe. Obwohl ihre Umgebung ihnen nicht mehr zusagte, sahen sie doch keine Veranlassung, den Platz zu verlassen, auf den ihre Pflicht sie stellte. Dort hatten sie die Wahrheit gefunden, und dort blieben sie auch, um durch ihren veränderten Lebenswandel und Charakter die umwandelnde Kraft des Glaubens zu bezeugen. WA 462.1
Kann jemand, der es versäumt, ein Zeuge Christi zu sein, seine Verhältnisse dafür verantwortlich machen? Laßt uns an die Christen im Hause des Kaisers denken, an den sittlichen Tiefstand dort, an die Verwahrlosung des Hofes. Wir können uns für ein Leben des Glaubens kaum Verhältnisse vorstellen, die noch größere Opfer und härteren Einsatz fordern als die, in denen sich diese Bekehrten befanden. Dennoch blieben sie inmitten dieser Schwierigkeiten und Gefahren treu. Wohl mag ein Christ mit dem Hinweis auf scheinbar unüberwindliche Hindernisse versuchen, sich zu entschuldigen, daß er der Wahrheit, wie sie sich in Jesus darstellt, nicht gehorchen könne. Niemals aber kann er einen stichhaltigen Entschuldigungsgrund anführen. Könnte er es, so wäre damit erwiesen, daß Gott ungerecht sei, da er seinen Kindern Bedingungen für den Empfang des Heils auferlege, die unerfüllbar sind. WA 462.2
Wer in seinem Herzen fest entschlossen ist, Gott zu dienen, wird auch Gelegenheit finden, für ihn zu zeugen. Schwierigkeiten werden ihm kein Hindernis sein, wenn er entschlossen ist, “am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit” (Matthäus 6,33) zu trachten. In der Kraft, die der Gläubige durch das Gebet und durch Forschen im Wort Gottes erlangt, wird er der Tugend nachstreben und dem Laster absagen. Im Aufblick zu Jesus, dem “Anfänger und Vollender des Glaubens”, der das “Widersprechen von den Sündern wider sich erduldet hat” (Hebräer 12,2.3), wird auch der Gläubige willig Verachtung und Spott ertragen. Gott, dessen Wort die Wahrheit ist, hat ausreichend Hilfe und Gnade für alle Lebenslagen zugesagt. Seine ewigen Arme umfangen den, der bei ihm Hilfe sucht. In ihm sind wir sicher geborgen und können sprechen: “Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.” Psalm 56,4. Gott wird seine Verheißung an denen wahrmachen, die ihm vertrauen. WA 462.3
Durch sein eigenes Beispiel zeigte der Heiland, daß seine Nachfolger “in der Welt” leben können, ohne “von der Welt” (Johannes 17,11.14) zu sein. Er kam nicht, um an ihren trügerischen Vergnügungen teilzunehmen, um sich von ihren Sitten beherrschen zu lassen und sich ihrer Praktiken zu bedienen, sondern um den Willen seines Vaters zu tun und “zu suchen und selig zu machen, was verloren ist”. Lukas 19,10. Behält der Christ dieses Ziel im Auge, wird er unbefleckt bleiben, wo immer er sich befindet. Ganz gleich, welche Stellung er innehat und wie seine Verhältnisse sein mögen: die Kraft wahrer Frömmigkeit wird sich in treuer Pflichterfüllung bekunden. WA 463.1
Ein christlicher Charakter entwickelt sich nicht, wenn man vor Anfechtung verschont bleibt, sondern wenn man sich in ihnen bewährt. Widerspruch und Widerstand führen den Nachfolger Christi zu größerer Wachsamkeit und lassen ihn ernster zu seinem mächtigen Helfer beten. Anfechtungen, die wir ertragen, bewirken Geduld, Wachsamkeit, Festigkeit und ein tiefes, bleibendes Gottvertrauen. Der Triumph des christlichen Glaubens besteht darin, daß der Nachfolger Jesu befähigt wird, zu leiden und dennoch stark zu sein, zu unterliegen und eben dadurch zu überwinden, sich immerdar in den Tod geben zu lassen und trotzdem zu leben, das Kreuz zu tragen und dadurch die Krone der Herrlichkeit zu erlangen. WA 463.2