Jakobs Kampf Am Jabbok
Es war eine verlassene, gebirgige Gegend, ein Schlupfwinkel für wilde Tiere und ein Versteck für Räuber und Mörder. Einsam und schutzlos beugte sich Jakob in großer Not zur Erde. Es war Mitternacht. Alles, was ihm das Leben lebenswert machte, war von ihm getrennt - der Gefahr und dem Tod ausgesetzt. Am bittersten aber war der Gedanke, dass seine eigene Sünde diese unschuldigen Menschen in so große Gefahr gebracht hatte. Laut weinend betete er zu Gott.WAB 178.1
Da legte sich plötzlich eine starke Hand auf ihn. Er dachte, ein Feind wolle ihm ans Leben. Er versuchte, sich dem Griff des Gegners zu entwinden. In der Dunkelheit rangen beide um die Oberhand. Keiner sprach ein Wort. Jakob setzte seine ganze Kraft ein und ließ in seinen Anstrengungen auch nicht einen Augenblick nach. Während er so um sein Leben kämpfte, überkam ihn ein starkes Schuldbewusstsein. Seine Sünden türmten sich vor ihm auf und wollten sich trennend zwischen ihn und Gott schieben. Aber in der höchsten Not erinnerte er sich an Gottes Verheißung, und von ganzem Herzen flehte er um dessen Gnade. Der Kampf dauerte bis zum Morgengrauen. Da legte der Fremde seinen Finger auf Jakobs Hüfte. Sofort war sie ausgerenkt und Jakob verkrüppelt. Jetzt erkannte der Patriarch das Wesen seines Gegners und begriff, dass er mit einem himmlischen Boten gekämpft hatte. Darum hatte er trotz schier übermenschlicher Anstrengung den Sieg nicht erringen können. Es war Christus, »der Engel des Bundes« (Maleachi 3,1), der sich selbst Jakob offenbarte. Der Patriarch war jetzt kampfunfähig und litt unter sehr heftigen Schmerzen, aber er wollte ihn nicht entgleiten lassen. Reuig und gebrochen klammerte er sich an den Engell , »er weinte und bat ihn” (Hosea 12,5), flehte um einen Segen. Jakob musste Gewissheit haben, dass ihm seine Sünde vergeben war. Auch die körperlichen Schmerzen konnten seine Gedanken nicht davon abbringen. Seine Entschlossenheit wurde nur noch größer, sein Glaube ernster und beharrlicher. Der Engel versuchte, sich zu befreien. Er drängte: »Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.” Aber Jakob antwortete: »Ich lasse dich nicht los, bevor du mich gesegnet hast!” (1. Mose 32,27 NLB) Hätte daraus vermessenes Vertrauen gesprochen, wäre Jakob auf der Stelle getötet worden. Aber es war die Zuversicht eines Menschen, der sich seiner Unwürdigkeit bewusst ist und sich dennoch zuversichtlich auf die Treue Gottes, der seinen Bund hält, verlässt.WAB 178.2
Jakob »kämpfte mit dem Engel und siegte« (Hosea 12,5). Weil er sich erniedrigte, seine Sünde bereute und sich ihm ganz auslieferte, überwand dieser sündige, irrende Sterbliche die Majestät des Himmels. Mit zitterndem Griff hatte er sich an Gottes Zusagen festgehalten, und die Quelle unendlicher Liebe konnte die flehentliche Bitte des Sünders nicht abweisen.WAB 179.1
Der Irrtum, der Jakob dazu verleitet hatte, das Erstgeburtsrecht durch Betrug an sich zu bringen, stand ihm gerade jetzt klar vor Augen. Er hatte nicht auf Gottes Verheißung vertraut, sondern mit eigenen Bemühungen erreichen wollen, was Gott zu seiner Zeit und auf seine Weise getan hätte. Als Zeichen, dass ihm vergeben war, wurde sein Name, der »Betrüger” bedeutete (vgl. 1. Mose 27,36a), geändert. Auf diese Weise wurde aus der Erinnerung an seine Sünde das Gedenken an seinen Sieg. »Du sollst nicht mehr Jakob heißen«, sagte der Engel, »sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.” (1. Mose 32,29)WAB 179.2
Jakob hatte den Segen empfangen, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Sein schuldhaftes Versagen als Betrüger war vergeben, die Krise seines Lebens überwunden. Zweifel, Verwirrung und Gewissensbisse hatten sein Dasein bis dahin verbittert, aber nun war alles anders: Der tiefe Friede der Versöhnung mit Gott erfüllte ihn. Nun fürchtete sich Jakob nicht mehr davor, seinem Bruder zu begegnen. Gott, der ihm die Sünde vergeben hatte, konnte auch Esau bewegen, Jakobs Selbsterniedrigung und Reue freundlich aufzunehmen.WAB 179.3
Während Jakob mit dem Engel rang, wurde ein anderer Himmelsbote zu Esau gesandt. In einem Traum sah Esau seinen Bruder, der 20 Jahre lang von seinem Vaterhaus verbannt war. Er wurde Zeuge der Trauer Jakobs, als dieser vom Tod seiner Mutter erfuhr. Er sah ihn von den himmlischen Heerscharen umgeben. Esau erzählte diesen Traum seinen Kriegern und befahl ihnen, Jakob kein Leid zuzufügen, weil der Gott seines Vaters mit ihm sei.WAB 179.4