Verspätung?
Die Anweisung aus dem prophetischen Wort: »Schreib auf, was du geschaut hast, deutlich auf eine Tafel, dass es lesen könne, wer vorüberläuft!” (Habakuk 2,2) hatte Charles Fitch schon im Jahr 1842 auf den Gedanken gebracht, eine prophetische Karte anzufertigen, um die Visionen aus den Büchern Daniel und Offenbarung bildlich darzustellen. Die Veröffentlichung dieser Grafik wurde als Erfüllung des Auftrags an Habakuk angesehen. Zu jener Zeit bemerkte aber niemand, dass gerade in dieser Prophezeiung von einem offenbaren Verzug der Erfüllung und von einer Zeit des Wartens gesprochen wird. Nach der Enttäuschung gewann der folgende Textabschnitt an Bedeutung: »Die Weissagung wird ja noch erfüllt werden zu ihrer Zeit und wird endlich frei an den Tag kommen und nicht trügen. Wenn sie sich auch hinzieht, so harre ihrer; sie wird gewiss kommen und nicht ausbleiben ... der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.«VSL 355.1
Ein Teil von Hesekiels Prophezeiungen war für die Gläubigen ebenfalls eine Quelle der Kraft und des Trostes: »Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, was habt ihr da für ein Gerede im Lande Israels? Ihr sagt: Es dauert so lange, und es wird nichts aus der Weissagung. Darum sage zu ihnen: So spricht Gott der Herr: . Die Zeit ist nahe, und alles kommt, was geweissagt ist. ... Denn ich bin der Herr. Was ich rede, das soll geschehen und sich nicht lange hinausziehen.” (Hesekiel 12,21-25) »Mit den Gesichten, die dieser schaut, dauert’s noch lange, und er weissagt auf Zeiten, die noch ferne sind. Darum sage ihnen: So spricht Gott der Herr: Was ich rede, soll sich nicht lange hinausziehen, sondern es soll geschehen, spricht Gott der Herr.” (Hesekiel 12,27.28)VSL 355.2
Die Wartenden freuten sich und glaubten, dass der, der das Ende von Beginn an kennt, der die Zeiten überblickt, ihre Enttäuschung voraussah und ihnen Worte des Trostes und der Hoffnung geschenkt hatte. Hätte es diese Schriftabschnitte nicht gegeben, die sie ermahnten, geduldig zu warten und an ihrem Vertrauen zu Gott festzuhalten, so hätte ihr Glaube in dieser schweren Prüfungszeit versagt.VSL 355.3
Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen aus Matthäus 25 weist ebenfalls auf die Erfahrung des Adventvolks hin. Als Christus die Fragen seiner Jünger in Matthäus 24 beantwortete, wie die Zeichen seiner Wiederkunft und des Endes der Welt aussehen würden, nannte er die wichtigsten Ereignisse der Welt und Kirchengeschichte zwischen seinem ersten Erscheinen und seiner Wiederkunft: die Zerstörung Jerusalems, die große Trübsal der Gemeinde unter heidnischer und päpstlicher Verfolgung, die Verfinsterung der Sonne und des Mondes und den Sternenfall. Dann sprach er von seiner Ankunft in seinem Reich und erzählte das Gleichnis, das die beiden Gruppen von Knechten zeigt, die auf sein Erscheinen warteten. Das Kapitel 25 beginnt danach mit den Worten: »Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen«. Wie am Ende von Kapitel 24 wird erzählt, wie die Gemeinde in den letzten Tagen lebt. In diesem Gleichnis wird ihre Erfahrung an Hand von Ereignissen einer nahöstlichen Hochzeit beschrieben.VSL 355.4
»Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!” (Matthäus 25,1-6)VSL 356.1
Das Kommen Christi, wie es die erste Engelsbotschaft verkündigt, ist hier das Erscheinen des Bräutigams. Die weitreichenden Erneuerungsbewegungen durch die Verkündigung der baldigen Wiederkunft Christi entsprechen dem Aufbrechen der zehn Jungfrauen. Zwei verschiedene Arten von Menschen treten in diesem Gleichnis wie auch in jenem von Matthäus 24 auf. Alle hatten ihre Lampen - die Bibel - mitgenommen und waren im Schein ihrer Lichter dem Bräutigam entgegengegangen. »Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen.” (Matthäus 25,3.4) Die Letzteren hatten die Gnade Gottes und die erleuchtende Macht des Heiligen Geistes empfangen. Sein Wort war ihres »Fußes Leuchte und ein Licht” auf ihrem Wege (Psalm 119,105). Sie hatten die Schrift in der Furcht Gottes erforscht, um die Wahrheit kennen zu lernen, und ernsthaft nach Reinheit des Herzens und des Lebens gestrebt. Sie hatten eigene Erfahrungen gemacht und glaubten an Gott und sein Wort. Die daraus resultierende Überzeugung konnte weder durch Enttäuschungen noch Verzögerungen zerstört werden. Andere »nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit.« Sie hatten aus dem Impuls heraus gehandelt. Bei ihnen hatte die ernste Botschaft Furcht ausgelöst, aber sie waren vom Glauben ihrer Geschwister abhängig und mit ihren unbeständigen, zur Zeit aber guten Gefühlen zufrieden, ohne ein volles Verständnis der Wahrheit zu haben oder ein echtes Werk der Gnade an ihren Herzen erlebt zu haben. Sie gingen voller Hoffnung und der Erwartung einer sofortigen Belohnung ihrem Herrn entgegen, aber sie waren auf Verzögerung und Enttäuschung nicht vorbereitet. Als Prüfungen kamen, versagte ihr Glaube und ihre Lichter brannten trübe.VSL 356.2
»Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.« (Matthäus 25,5) Die Verzögerung des Bräutigams entspricht der Zeit der Wiederkunftserwartung, der Zeit der Enttäuschung und des scheinbaren Verzugs. In dieser Zeit der Unsicherheit schwand bald das Interesse der Oberflächlichen und Halbherzigen, und ihre Anstrengungen ließen nach. Wer aber seinen Glauben auf eine persönliche Kenntnis der Bibel stützte, stand auf einem Felsen, den die Wellen der Enttäuschung nicht wegspülen konnten. Sie wurden »alle schläfrig und schliefen ein”. Die einen wurden gleichgültig und gaben ihren Glauben auf, die anderen warteten geduldig, bis helleres Licht geschenkt wurde. Doch schienen auch die Letzteren in der Nacht der Prüfung ihren Eifer und ihre Hingabe zu verlieren. Die Halbherzigen und Oberflächlichen konnten sich nicht länger auf den Glauben ihrer Geschwister stützen. Jeder musste für sich selbst stehen oder fallen.VSL 357.1
Etwa zu jener Zeit kam Fanatismus auf. Einige, die sich begeistert zur Botschaft bekannt hatten, begannen das Wort Gottes als ihren einzigen unfehlbaren Leitfaden zu verwerfen und behaupteten, nun vom Geist geleitet zu sein. Sie ließen sich von ihren eigenen Gefühlen, Eindrücken und Vorstellungen beherrschen. Es gab solche, die in ihrem blinden und fanatischen Eifer all jene verurteilten, die diesen Kurs nicht gut hießen. Bei der Mehrheit der Adventgläubigen fanden ihre schwärmerischen Ansichten und Handlungen zwar kein Verständnis, aber sie dienten dazu, die Sache der Wahrheit insgesamt in Verruf zu bringen.VSL 357.2