Kapitel 35: “... der versucht worden ist in allem wie wir”
Nach dem Fall des Menschen erklärte Satan, es habe sich erwiesen, daß die Menschen unfähig seien, das Gesetz Gottes zu halten. Er suchte das ganze Universum mit dieser Auffassung zu beeinflussen. Es schien, als sagte er die Wahrheit, aber Christus kam, um den Betrüger zu entlarven. Die Majestät des Himmels nahm sich der Sache des Menschen an. Mit Hilfe derselben Möglichkeiten, die jedem Menschen zur Verfügung stehen, widerstand sie den Versuchungen Satans, wie jeder Mensch ihnen widerstehen muß. Dies war der einzige Weg, um gefallene Menschen zu Teilhabern der göttlichen Natur werden zu lassen. Indem er die menschliche Natur annahm, wurde Christus befähigt, die Sorgen, Nöte und Versuchungen zu verstehen, die den Menschen bedrängen. Engel, die nicht mit der Sünde vertraut waren, konnten die besonderen Nöte des Menschen nicht wirklich nachfühlen. Christus war bereit, die menschliche Natur anzunehmen, und wurde in allem versucht wie wir, um all jenen Beistand leisten zu können, die versucht würden.FG1 266.1
Indem er Mensch wurde, machte Christus die Sache jedes Menschen zu seiner eigenen Angelegenheit. Er wurde zum Haupt der Menschheit. Zugleich ein göttliches und menschliches Wesen, konnte er mit seiner Menschlichkeit die gesamte Menschheit umfangen, während er dank seiner Göttlichkeit Anspruch auf den Thron des Ewigen erheben konnte.FG1 266.2
Was für ein Anblick bot sich dem Himmel! Christus, der nicht die geringste Spur von Sünde und Verunreinigung kannte, nahm unsere Natur in ihrem verdorbenen Zustand an. Diese Erniedrigung war zu groß, als daß sterbliche Menschen sie verstehen könnten. Gott wurde Fleisch. Er erniedrigte sich selbst. Welch ein Gegenstand ernster, tiefer Betrachtung! Er war unendlich groß, besaß himmlische Majestät. Und obwohl er sich so sehr erniedrigte, verlor er nicht einen Hauch seiner Würde und Herrlichkeit! Er erniedrigte sich bis zur Armut, bis zur untersten Stufe der menschlichen Gemeinschaft. Um unsertwillen wurde er arm, damit wir durch seine Armut reich würden. “Die Füchse haben Gruben”, sagte er, “und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.” Matthäus 8,20.FG1 266.3
Christus erduldete Verachtung, Beleidigung, Spott und Hohn. Er mußte erleben, daß seine Botschaft, die voller Liebe, Güte und Barmherzigkeit war, mißbraucht und verfälscht wurde. Er mußte anhören, daß man ihn als den Fürsten der Dämonen bezeichnete, weil er seine Gottessohnschaft bezeugte. Seine Geburt war übernatürlicher Art, aber sein eigenes Volk, das seine Augen gegenüber geistlichen Dingen verschlossen hatte, betrachtete sie als Makel und Schandfleck. Es gab keinen Tropfen unseres bitteren Leides, den er nicht geschmeckt hätte, nicht einen Bruchteil unseres Fluches, den er nicht erduldete, damit er viele Söhne und Töchter zu Gott bringen konnte.FG1 267.1
Die Tatsache, daß Jesus als ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut auf dieser Erde lebte und daß er seine himmlische Heimat verließ, um gefallene Menschen vom ewigen Verderben zu erretten, sollte allen unseren Stolz in den Staub legen, unsere Eitelkeit beschämen und uns die Sünde der Selbstgefälligkeit offenbaren. Schaut, wie er die Bedürfnisse, Sorgen, Leiden und Nöte sündiger Menschen zu seinen eigenen macht. Können wir diese Lektion nicht lernen, daß Gott diese Leiden und Qualen der Seele als Folge der Sünde erleiden mußte? Christus kam auf die Erde, nahm Menschengestalt an und wurde zum Stellvertreter aller Menschen, um in der Auseinandersetzung mit Satan zu zeigen, daß der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hatte, in Verbindung mit dem Vater und dem Sohn jeder göttlichen Forderung entsprechen konnte. Durch seinen Diener erklärt er: “Seine Gebote sind nicht schwer.” 1.Johannes 5,3. Es war die Sünde, die den Menschen von seinem Gott trennte, und es ist die Sünde, die diese Trennung aufrechterhält.FG1 267.2
Die Verheißung in Eden
Die Feindschaft, von der die Verheißung in Eden sprach, sollte sich nicht nur auf Satan und den Fürsten des Lebens beschränken. Sie sollte universal bestehen. Satan und seine Engel sollten die Feindschaft der gesamten Menschheit spüren. Gott sagte: “Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.” 1.Mose 3,15.FG1 268.1
Die Feindschaft, die zwischen dem Samen der Schlange und dem Samen des Weibes gesetzt wurde, war übernatürlicher Art. Mit Christus war die Feindschaft einerseits natürlich; andererseits war sie übernatürlich, weil Menschlichkeit und Göttlichkeit miteinander verbunden waren. Und niemals wurde diese Feindschaft in einem solchen Ausmaß enthüllt als zu dem Zeitpunkt, da Christus ein Bewohner dieser Erde wurde. Niemals zuvor hatte ein Wesen auf dieser Erde gelebt, das die Sünde so vollkommen haßte, wie Christus es tat. Er hatte ihre betrügerische Macht über die heiligen Engel erlebt. Deshalb setzte er seine ganze Kraft im Kampf gegen sie ein.FG1 268.2
Die Reinheit und Heiligkeit Christi, die fleckenlose Gerechtigkeit dessen, der nicht sündigte, war eine beständige Anklage gegen eine Welt voll Sinnlichkeit und Sünde. In seinem Leben leuchtete das Licht der Wahrheit inmitten der moralischen Dunkelheit auf, mit der Satan die Welt erfüllt hatte. Christus entlarvte Satans Falschheit und seinen betrügerischen Charakter und zerstörte in vielen Herzen seinen verderblichen Einfluß. Dies war es, was Satan mit furchtbarem Haß erfüllte. Mit seinen Heerscharen gefallener Wesen bemühte er sich, den Kampf noch erbitterter zu führen; denn nun gab es auf der Welt den Einen, der ein vollkommener Repräsentant des Vaters war, den Einen, dessen Charakter und Taten Satans fehlerhafte Darstellung Gottes widerlegten. Satan hatte Gott die Eigenschaft unterstellt, die er selbst besaß. Nun sah er, wie in Christus der wahre Charakter Gottes offenbart wurde — der eines barmherzigen und gnädigen Vaters, der nicht will, daß jemand verlorengeht, sondern daß sich alle in Reue zu ihm wenden und ewiges Leben erhalten.FG1 268.3
Intensive Weltlichkeit ist schon immer eine der erfolgreichsten Versuchungen Satans gewesen. Er bemüht sich, die Herzen und Gedanken der Menschen so sehr mit weltlichen Dingen zu füllen, daß für himmlische Belange kein Raum bleibt. In ihrer Liebe zur Welt kontrolliert er ihr Denken. Irdische Dinge verdrängen die himmlischen, verstellen den Blick und den Verstand für den Herrn. Falsche Theorien und falsche Götter werden anstelle der Wahrheit gepflegt. Die Menschen werden vom Glanz und Flitter der Welt bezaubert. Sie sind so sehr an die Dinge dieser Welt gebunden, daß viele von ihnen jeder Sünde zustimmen, um einige weltliche Vorteile zu erlangen.FG1 269.1
Genau an diesem Punkt hoffte Satan, Christus überwinden zu können. Er dachte, es sei leicht, ihn in seiner Menschlichkeit zu überwältigen. “Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest”. Matthäus 4,8.9.FG1 269.2
Aber Christus blieb fest. Er fühlte die Stärke dieser Versuchung; aber er stellte sich ihr an unserer Statt und überwand sie. Und er benutzte dazu die Waffen, die jedem Menschen zum Gebrauch zur Verfügung stehen — das Wort dessen, der ein mächtiger Ratgeber ist: “Es steht geschrieben.” Matthäus 4,4.10.FG1 269.3
Mit welch intensivem Interesse wurde diese Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Ehre des Gesetzes verteidigt wurde, von den himmlischen Engeln und ungefallenen Welten verfolgt. Nicht nur für diese Welt, sondern für das gesamte Universum wurde der Verlauf dieser Auseinandersetzung aufgezeichnet. Auch die Mächte der Finsternis beobachteten das Geschehen, um vielleicht den Schatten einer Möglichkeit zu entdecken, über den göttlichen und menschlichen Stellvertreter des Menschengeschlechts zu triumphieren. Dann hätte der Abtrünnige “Sieg” ausrufen können, und die Welt und ihre Bewohner wären für immer zu seinem Reich geworden.FG1 269.4
Aber Satan erreichte nur die Ferse. Den Kopf konnte er nicht berühren. Beim Tode Christi sah Satan, daß er besiegt war. Er erkannte, daß sein wahrer Charakter klar vor dem ganzen Himmel offenbart war und daß die himmlischen Wesen und die Welten, die Gott geschaffen hatte, schließlich völlig auf Gottes Seite stehen würden. Er sah, daß alle seine Hoffnungen bezüglich eines zukünftigen Einflusses auf sie völlig vernichtet werden würden. Die Menschwerdung Christi würde für ewige Zeiten die Frage klären, die zu dem großen Kampf geführt hatte.FG1 269.5
Die Sündlosigkeit der menschlichen Natur Christi
Während er die menschliche Natur in ihrem gefallenen Zustand auf sich nahm, hatte Christus gleichzeitig jedoch keinen Anteil an ihrer Sündhaftigkeit. Er war der Gegenstand der Unvollkommenheiten und Schwächen, die jeden Menschen umgeben, “damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: ‘Er hat unsre Schwachheit auf sich genommen, und unsre Krankheit hat er getragen.’” Matthäus 8,17.FG1 270.1
Er spürte unsere Schwachheiten und wurde in allem versucht wie wir. Und obwohl er von keiner Sünde wußte, war er das unschuldige und unbefleckte Lamm. 1.Petrus 1,19. Wäre Satan fähig gewesen, Christus auch nur in einem einzigen Punkt zur Sünde zu verführen, hätte er den Kopf des Erlösers zertreten. So jedoch konnte er ihn nur in die Ferse stechen. Hätte er den Kopf Christi erreicht, wäre die Menschheit ohne Hoffnung geblieben. Der göttliche Zorn wäre über Christus gekommen, wie er über Adam kam. Christus und die Gemeinde wären ohne Hoffnung gewesen.FG1 270.2
Wir sollten keinerlei Zweifel hinsichtlich der völligen Sündlosigkeit der menschlichen Natur Christi hegen. Unser Glaube muß ein verständiger Glaube sein, der in völligem Vertrauen auf Jesus blickt und sein ganzes Vertrauen auf das versöhnende Opfer setzt. Dies ist so wesentlich, daß die Seele darüber nicht in Unklarheit bleiben darf. Dieser heilige Stellvertreter ist fähig, bis zum Äußersten zu retten, denn er bewies gegenüber dem staunenden Universum in seinem menschlichen Charakter völlige und vollkommene Demut sowie vollkommenen Gehorsam gegenüber allen Forderungen Gottes. Göttliche Macht wird dem Menschen gegeben, damit er zum Teilhaber der göttlichen Natur werden kann, der dem Verderben entflohen ist, das durch die Lust in dieser Welt existiert. Dies ist der Grund, warum der bereuende, gläubige Mensch in Christus vor Gott gerechtgesprochen werden kann.FG1 270.3