Sein Gewissen hielt David bittere und demütigende Wahrheiten vor. Während sich seine treuen Untertanen über die plötzliche Wende des königlichen Geschicks wunderten, war sie für ihn kein Geheimnis. Schon so oft hatte er eine Vorahnung auf eine solche Stunde gehabt. Dabei hatte er sich immer gefragt, weshalb Gott mit seinen Sünden so lange Geduld hatte und die verdiente Strafe hinauszögerte. Nun befand er sich auf dieser eiligen, kummervollen Flucht, barfuß und in Sackleinen statt in Königsgewänder gekleidet. Während die lauten Klagerufe seiner Begleiter von den Hügeln widerhallten, dachte er an seine geliebte Hauptstadt, an jenen Ort, an dem er seine Sünde begangen hatte. Doch er erinnerte sich an die Güte und Langmut Gottes und blieb nicht gänzlich ohne Hoffnung. Er glaubte, dass der Herr auch weiter mit ihm barmherzig umgehen werde. WAB 718.1
Schon mancher Übeltäter hat seine Sünde mit dem Hinweis auf Davids Fall zu entschuldigen versucht. Aber wie wenige gibt es, die Davids Reue und Demut aufbringen! Wie wenige würden Tadel und Vergeltung mit so viel Geduld und Stärke tragen wie er! Er hatte seine Sünde bekannt und sich danach jahrelang bemüht, als treuer Diener Gottes seine Pflicht zu tun. Er hatte am Aufbau des Reiches gearbeitet, das unter seiner Herrschaft stark geworden und zu nie gekanntem Wohlstand gekommen war. Er hatte reichlich Baumaterial zur Errichtung des Hauses Gottes zusammengetragen. Sollte nun seine ganze Lebensarbeit vergebens gewesen sein? Sollten die Früchte jahrelanger hingebungsvoller Mühe, das durch Geistesgröße, Hingabe und Staatskunst aufgebaute Werk, in die Hände seines unbesonnenen, verräterischen Sohnes übergehen, der weder Gottes Ehre noch Israels Wohl beachtete? Es wäre ganz natürlich gewesen, wenn David in diesem großen Elend gegen Gott gemurrt hätte. WAB 718.2
Aber er sah die Ursache seiner Schwierigkeiten in seinen eigenen Verfehlungen. Die Worte des Propheten Micha atmen den Geist, der Davids Herz bewegte: »Ist um mich herum auch alles dunkel, ist doch der Herr selbst mein Licht. Ich habe gesündigt und muss nun den Zorn des Herrn ertragen, bis er meine Sache in die Hand nimmt und mir zu meinem Recht verhilft.” (Micha 7,8.9 NLB) Und der Herr verließ David nicht. Eines der edelsten Kapitel seines Lebens wurde geschrieben: David erwies sich unter schrecklichem Unrecht und unter Beleidigungen dennoch demütig, selbstlos, großzügig und nachgiebig. Niemals war Israels Herrscher in den Augen des Himmels so wahrhaft groß wie in der Stunde seiner tiefsten äußerlichen Demütigung. WAB 718.3
Hätte Gott David für seine Sünde ungestraft und in Frieden und Wohlergehen auf dem Thron belassen, obwohl er doch die göttlichen Grundsätze verletzt hatte, könnten Skeptiker und Ungläubige seine Geschichte - nicht ganz zu Unrecht - für ihre Kritik am biblischen Glauben heranziehen. Aber in der Erfahrung, durch die er David gehen ließ, zeigt der Herr, dass er Unrecht weder dulden noch entschuldigen kann. Und Davids Geschichte lässt uns auch die großen Ziele erkennen, die Gott in seinem Umgang mit der Sünde verfolgt. Sie ermöglicht es uns, selbst durch die dunkelsten Gerichte hindurch zu verfolgen, wie Gott mit seinen barmherzigen und wohltätigen Plänen ans Ziel gelangt. Gott ließ David die Zuchtrute spüren, aber er vernichtete ihn nicht. Der Schmelzofen soll läutern, aber nicht verzehren. Der Herr sagt: »Wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.« (Psalm 89,32-34) WAB 718.4