Mit der Zerstörung Jerusalems verbanden die Jünger die Wiederkunft Christi in weltlicher Herrlichkeit, um den Thron eines Weltreichs zu besteigen, die unbußfertigen Juden zu bestrafen und das Volk von der römischen Unterdrückung zu befreien. Der Herr hatte ihnen gesagt, dass er wiederkommen werde. Als sie von dem Gericht über Jerusalem hörten, dachten sie an diese Wiederkunft, und als sie mit Jesus Christus auf dem Ölberg zusammen waren, fragten sie deshalb: »Sage uns, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?” (Matthäus 24,3) VSL 27.3
Die Zukunft blieb den Jüngern barmherzigerweise verhüllt. Hätten sie zu jener Zeit die zwei furchtbaren Tatsachen - die Leiden und den Tod des Erlösers sowie die Zerstörung ihrer Stadt und des Tempels - völlig verstanden, wären sie von Entsetzen überwältigt worden. Christus gab ihnen nur einen kurzen Überblick über die wichtigsten Ereignisse, die vor dem Ende der Zeit stattfinden würden. Seine Worte wurden damals nicht ganz verstanden, aber ihre Bedeutung sollte seinem Volk verständlich gemacht werden, sobald es dieses benötigte. Die Prophezeiung, die er hier aussprach, hatte eine doppelte Bedeutung: Sie bezog sich zunächst auf die Zerstörung Jerusalems, schilderte aber zugleich die Schrecken des Jüngsten Tages. VSL 27.4
Jesus schilderte den aufmerksamen Jüngern die Strafgerichte, die über das abgefallene Israel hereinbrechen würden und insbesondere die Vergeltung, die über sie kommen würde, weil sie den Messias verschmähten und kreuzigten. Eindeutige Zeichen würden dem schrecklichen Höhepunkt vorausgehen. Die gefürchtete Stunde würde schnell und unerwartet hereinbrechen. Christus warnte seine Nachfolger: »Wenn ihr nun sehen werdet das Gräuelbild der Verwüstung stehen an der heiligen Stätte, wovon gesagt ist durch den Propheten Daniel - wer das liest, der merke auf! -, alsdann fliehe auf die Berge ...” (Matthäus 24,15.16; vgl. Lukas 21,20) Wenn die heidnischen Standarten der Römer bis auf wenige hundert Meter von der Stadtmauer entfernt auf heiligem Boden aufgepflanzt würden, dann könnten sich die Nachfolger Christi noch durch eine Flucht retten. Sobald das Warnzeichen erkennbar wäre, dürften alle, die entkommen wollten, nicht zögern. Im ganzen Land Judäa sowie in Jerusalem selbst musste man dem Zeichen zur Flucht sofort gehorchen. Wer gerade auf dem Dach war, sollte nicht ins Haus gehen, selbst nicht einmal, um seine wertvollsten Schätze zu retten. Wer auf dem Feld oder im Weinberg arbeitete, sollte sich nicht die Zeit nehmen, das Oberkleid zu holen, das er wegen der Hitze des Tages abgelegt hatte. Niemand durfte auch nur einen Augenblick zögern, wenn er bei der allgemeinen Zerstörung nicht mit zugrunde gehen wollte. VSL 27.5
Während der Regierungszeit des Herodes wurde Jerusalem nicht nur beträchtlich verschönert, durch den Bau von Türmen, Wällen und Befestigungen wurde auch der natürliche Schutz der Stadt verstärkt, sodass sie als uneinnehmbar galt. Wer zu dieser Zeit öffentlich ihre Zerstörung vorhergesagt hätte, wäre wie einst Noah als verrückter Panikmacher bezeichnet worden. Christus sagte: »Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.” (Matthäus 24,35) Wegen ihrer Sünden wurde über die Stadt der Zorn Gottes ausgesprochen, und ihr hartnäckiger Unglaube besiegelte ihr Schicksal. VSL 28.1
Der Herr hatte durch den Propheten Micha erklärt: »So hört doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Herren im Hause Israel, die ihr das Recht verabscheut und alles, was gerade ist, krumm macht; die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht - seine Häupter richten für Geschenke, seine Priester lehren für Lohn und seine Propheten wahrsagen für Geld und euch dennoch auf den Herrn verlasst und sprecht: Ist nicht der Herr unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen.” (Micha 3,9-11) VSL 28.2
Diese Worte zeigen deutlich, wie verdorben und selbstgerecht die Einwohner Jerusalems waren. Während sie behaupteten, die Vorschriften des Gesetzes Gottes streng zu beachten, übertraten sie alle seine Grundsätze. Sie hassten Christus, weil seine Reinheit und Heiligkeit ihre Bosheit offenbarte, und sie klagten ihn an, die Ursache all des Unglücks zu sein, das infolge ihrer Sünden über sie kam. Obwohl sie wussten, dass er sündlos war, erklärten sie, sein Tod sei für die Sicherheit ihres Volks notwendig. »Lassen wir ihn so«, sagten die jüdischen Obersten, »dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute«. Wenn Christus geopfert würde, könnten sie noch einmal ein starkes, einiges Volk werden. So dachten sie und stimmten der Entscheidung ihres Hohenpriesters zu, dass es besser sei, »ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe« (Johannes 11,48.50). VSL 28.3
Auf diese Weise hatten die führenden Juden »Zion mit Blut ... und Jerusalem mit Unrecht” gebaut (Micha 3,10), und während sie ihren Erlöser töteten, weil er ihre Sünden getadelt hatte, war ihre Selbstgerechtigkeit so groß, dass sie sich als das begnadete Volk Gottes ansahen und vom Herrn erwarteten, dass er sie von ihren Feinden befreien werde. »Darum”, fuhr der Prophet fort, »wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zum Steinhaufen werden und der Berg des Tempels zu einer Höhe wilden Gestrüpps” (Micha 3,12). VSL 29.1