Nachdem das Schicksal Jerusalems von Christus selbst verkündet worden war, hielt der Herr seine Strafgerichte über Stadt und Nation fast vierzig Jahre zurück. Bewundernswert war die Langmut Gottes gegenüber denen, die sein Evangelium verwarfen und seinen Sohn ermordeten. Gottes Handeln mit den Juden als Nation wird im Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum treffend beschrieben. Der Auftrag war deutlich gegeben: »So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft?« (Lukas 13,7). Aber die göttliche Gnade gewährte noch eine letzte Schonzeit. Es gab immer noch viele Juden, denen der Charakter und das Werk Christi unbekannt waren. Oft erhielten die Nachkommen nicht die gleichen Gelegenheiten oder das gleiche Licht, das ihre Eltern zurückgewiesen hatten. Durch die Predigt der Apostel und ihrer Mitarbeiter wollte Gott Licht auf diese Nachkommen scheinen lassen, damit auch sie erfahren konnten, wie sich die Prophezeiungen nicht nur in der Geburt und im Leben Christi, sondern auch in seinem Tod und in seiner Auferstehung erfüllt hatten. Die Kinder wurden nicht für die Sünden ihrer Eltern verdammt (vgl. Hesekiel 18,20). Wenn sie jedoch das Licht kannten, das ihren Eltern gegeben worden war, und das zusätzliche Licht, das ihre Generation empfangen hatte, auch verwarfen, hatten sie Anteil an den Sünden ihrer Eltern und füllten das Maß ihrer Missetat. VSL 29.2
Gottes Langmut mit Jerusalem bestärkte die Juden nur in ihrer hartnäckigen Unbußfertigkeit. In ihrem Hass und ihrer Grausamkeit gegen die Jünger Jesu wiesen sie das letzte Gnadenangebot zurück. Daraufhin entzog Gott ihnen seinen Schutz und schränkte die Macht Satans und seiner Engel nicht länger ein. Die Nation wurde der Herrschaft des Führers überlassen, den sie sich selbst ausgewählt hatte. Ihre Kinder hatten die Gnade Christi verschmäht, die es ihnen möglich gemacht hätte, ihre üblen Triebe zu bändigen, und diese bekamen nun die Oberhand. Satan weckte in ihnen die heftigsten und niedrigsten Leidenschaften. Die Menschen handelten ohne Überlegung, sie waren von Sinnen und nur noch von ihren Trieben und blinder Wut beherrscht. Sie wurden satanisch in ihrer Grausamkeit. In der Familie wie im Volk, unter den höchsten wie den niedrigsten Klassen herrschten Argwohn, Neid, Hass, Streit, Empörung, Mord. Nirgendwo gab es Sicherheit. Freunde und Verwandte verrieten einander. Eltern töteten ihre Kinder und Kinder ihre Eltern. Die Führer des Volkes hatten nicht die Kraft, sich selbst zu beherrschen. Ungezügelte Leidenschaften machten sie zu Tyrannen. Die Juden glaubten falschen Zeugen, um so den unschuldigen Sohn Gottes zu verurteilen. Jetzt machten falsche Anklagen ihr eigenes Leben unsicher. Durch ihre Handlungen hatten sie lange genug zu erkennen gegeben: »Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!« (Jesaja 30,11) Nun war ihr Wunsch erfüllt: Gottesfurcht beunruhigte sie nicht länger. Satan stand an der Spitze der Nation, und er beherrschte die höchste zivile und religiöse Obrigkeit. VSL 29.3
Die Führer der gegensätzlichen politischen Gruppen taten sich vorübergehend zusammen, um ihre bemitleidenswerten Opfer auszuplündern und zu foltern, um sich dann nur wieder gegenseitig zu überfallen und gnadenlos abzuschlachten. Selbst vor dem heiligen Tempel machten sie mit ihrer schrecklichen Grausamkeit nicht Halt. Die Anbeter wurden vor dem Altar niedergemetzelt und so das Heiligtum durch Erschlagene verunreinigt. Dennoch erklärten die Anführer dieses teuflischen Werks in ihrer gotteslästerlichen Anmaßung öffentlich, sie hätten keine Sorge, dass Jerusalem zerstört werden würde, denn die Stadt sei Gottes Eigentum. Um ihre Macht zu festigen, bestachen sie falsche Propheten. Als die römischen Truppen schon den Tempel belagerten, sollten diese erklären, dass das Volk bis zur Befreiung durch Gott ausharren sollte. Bis zum Ende hielt die Menge an dem Glauben fest, dass der Allerhöchste zur Vernichtung der Gegner eingreifen würde. Israel aber hatte die göttliche Hilfe verschmäht und war nun den Feinden schutzlos ausgeliefert. Unglückliches Jerusalem! Es war durch innere Zwistigkeiten zerrissen, die Straßen durch seine toten Söhne, die sich gegenseitig erwürgten, blutrot gefärbt, während fremde Heere seine Befestigungen niederrissen und seine Krieger erschlugen. VSL 30.1
So erfüllten sich buchstäblich alle Vorhersagen Christi über die Zerstörung Jerusalems. Die Juden erfuhren die Wahrheit der Warnungsbotschaften Christi: »Mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.” (Matthäus 7,2) VSL 31.1
Als Vorboten des Unglücks und Untergangs erschienen Zeichen und Wunder. Mitten in der Nacht schien ein unnatürliches Licht über Tempel und Altar. Die Abendwolken erschienen dem Betrachter wie ein Heer von Kriegern mit Streitwagen, die sich zum Kampf rüsteten. Priester wurden während ihres abendlichen Dienstes durch geheimnisvolle Töne erschreckt, die Erde zitterte, und ein Chor von Stimmen schrie: »Lasset uns von dannen ziehen!” Das große Osttor, das so schwer war, dass es kaum von zwanzig Männern geschlossen werden konnte und das durch mächtige eiserne Sperren gesichert war, die tief im Steinbelag eingelassen waren, tat sich um Mitternacht von selbst auf. (MHJ, XIII; vgl. JGJL, VI, 5) VSL 31.2
Sieben Jahre lang ging ein Mann durch die Straßen Jerusalems und verkündigte der Stadt den drohenden Untergang. Tag und Nacht sang er das wilde Trauerlied: »Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden; eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über den Bräutigam und die Braut, Stimme über das ganze Volk.” Dieses seltsame Wesen wurde eingekerkert und gegeißelt; aber keine Klage kam über seine Lippen. Auf Schmähungen und Misshandlungen antwortete er nur: »Wehe, wehe Jerusalem! Wehe, wehe der Stadt, dem Volk und dem Tempel!” (MHJ, XIII; vgl. JGJL, VI, 5) Dieser Warnruf hörte nicht auf, bis der Mann bei der Belagerung, die er vorhergesagt hatte, getötet wurde. VSL 31.3