Die jüdischen Heere, die Cestius und sein Heer verfolgten, warfen sich mit solcher Wut auf dessen Nachhut, dass dieser die vollständige Vernichtung drohte. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es den Römern, sich zurückzuziehen. Die Juden blieben nahezu ohne Verluste und kehrten mit ihrer Beute triumphierend nach Jerusalem zurück. Doch dieser scheinbare Erfolg brachte ihnen nur Unheil. Er bestärkte ihren halsstarrigen Widerstand gegen die Römer und brachte schnell unaussprechliches Leid über eine Stadt, die dem Untergang geweiht war. VSL 32.1
Als Titus die Belagerung wieder aufnahm, brach das Elend über Jerusalem herein. Die Belagerung fand zur Zeit des Passafestes statt, als sich Millionen von Juden in der Stadt aufhielten. Die Lebensmittelvorräte hätten, sorgfältig aufbewahrt, die Bewohner jahrelang ernähren können, wenn sie nicht durch Missgunst und Rache der streitenden Parteien zerstört worden wären. Nun aber verbreitete sich der Schrecken der Hungersnot. Ein Maß Weizen wurde für ein Talent verkauft. Die Hungerqualen waren so schrecklich, dass Männer an dem Leder ihrer Gürtel, an ihren Sandalen und an den Hüllen ihrer Schilde nagten. Viele Bewohner schlichen sich zur Nachtzeit zur Stadt hinaus, um wilde Kräuter zu sammeln, die außerhalb der Stadtmauern wuchsen, obwohl viele ergriffen und unter grausamen Qualen getötet wurden. Andere kehrten wohlbehalten zurück, aber alles, was sie unter so großen Gefahren gesammelt hatten, wurde ihnen weggenommen. Die Obersten legten den Belagerten die unmenschlichsten Qualen auf, um von einer verarmten Bevölkerung die letzten knappen Vorräte herauszupressen, die sie möglicherweise irgendwo versteckt hatte. Nicht selten wurden solche Grausamkeiten von wohlgenährten Männern begangen, die sich nur einen möglichst guten Lebensmittelvorrat für die Zukunft anlegen wollten. VSL 32.2
Tausende starben durch Hunger und Seuchen. Die natürlichen Bande der Liebe schienen zerstört. Männer beraubten ihre Frauen und Frauen ihre Männer. Kinder rissen den greisen Eltern das Brot vom Mund. Die Frage des Propheten »Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen?« (Jesaja 49,15) erhielt in den Mauern dieser verlorenen Stadt eine Antwort: »Es haben die barmherzigsten Frauen ihre Kinder selbst kochen müssen, damit sie zu essen hatten in dem Jammer der Tochter meines Volks.« (Klagelieder 4,10) Wiederum bewahrheitete sich eine Warnung, die vierzehn Jahrhunderte zuvor gegeben worden war: »Eine Frau unter euch, die zuvor so verwöhnt und in Üppigkeit gelebt hat, dass sie nicht einmal versucht hat, ihre Fußsohle auf die Erde zu setzen, vor Verwöhnung und Wohlleben, die wird dem Mann in ihren Armen und ihrem Sohn und ihrer Tochter nicht gönnen die Nachgeburt ... und ihr Kind, das sie geboren hat; denn sie wird beides vor Mangel an allem heimlich essen in der Angst und Not, mit der dich dein Feind bedrängen wird in deinen Städten.« (5. Mose 28,56.57) VSL 33.1
Die römischen Offiziere versuchten, die Juden mit Schrecken zu erfüllen und dadurch zur Übergabe zu bewegen. Israeliten, die sich ihrer Gefangennahme widersetzten, wurden gegeißelt, gefoltert und vor der Stadtmauer gekreuzigt. Täglich erlitten Hunderte auf diese Weise den Tod, und dieses grauenvolle Werk setzte man so lange fort, bis im Tal Josaphat und auf Golgatha so viele Kreuze aufgerichtet waren, dass kaum Raum blieb, sich zwischen ihnen zu bewegen. Schrecklich erfüllte sich die frevelhafte, vor dem Richterstuhl des Pilatus ausgesprochene Verwünschung: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!” (Matthäus 27,25) VSL 33.2