Titus hätte der Schreckensszene gern ein Ende bereitet und damit der Stadt Jerusalem das volle Maß ihres Gerichts erspart. Entsetzen packte ihn, als er die Leichname der Erschlagenen haufenweise in den Tälern liegen sah. Überwältigt schaute er vom Gipfel des Ölbergs auf den herrlichen Tempel und gab Befehl, nicht einen Stein davon zu berühren. Bevor er versuchte, diese Festung einzunehmen, beschwor er die jüdischen Führer in einem ernsten Aufruf, ihn nicht zu zwingen, die heilige Stätte mit Blut zu entweihen. Sollten sie einwilligen, an einem anderen Ort zu kämpfen, würde kein Römer die Heiligkeit des Tempels verletzen. Flavius Josephus selbst forderte die Juden mit einem eindringlichen Appell auf, den Widerstand einzustellen, um sich selbst, ihre Stadt und die Stätte ihrer Anbetung zu retten. Aber seine Worte wurden mit bitteren Verwünschungen beantwortet. Als er als letzter Vermittler vor ihnen stand, um mit ihnen zu verhandeln, schoss man Pfeile gegen ihn ab. Die Juden hatten die flehentlichen Bitten des Sohnes Gottes verworfen, und nun machten sie Vorhaltungen und Bitten nur noch umso entschlossener, bis zuletzt Widerstand zu leisten. Die Bemühungen von Titus, den Tempel zu retten, waren vergeblich. Ein Größerer als er hatte erklärt, dass nicht ein Stein auf dem andern bleiben sollte. VSL 33.3
Die blinde Hartnäckigkeit der führenden Juden und die verabscheuungswürdigen Verbrechen, die in der belagerten Stadt verübt wurden, erweckten bei den Römern Entsetzen und Entrüstung, und endlich beschloss Titus, den Tempelberg zu stürmen, das Gebäude aber, wenn möglich, vor der Zerstörung zu bewahren. Seine Befehle wurden jedoch missachtet. Als er sich abends in sein Zelt zurückgezogen hatte, unternahmen die Juden einen Ausfall aus dem Tempel und griffen die römischen Soldaten an. Im Handgemenge wurde von einem Soldaten eine Brandfackel durch eine Öffnung in die Vorhalle geschleudert, und unmittelbar darauf standen die mit Zedernholz getäfelten Räume um das heilige Gebäude in Flammen. Titus eilte mit seinen Generälen und Legionären herbei und befahl den Soldaten, die Flammen zu löschen, aber seine Worte blieben unbeachtet. In ihrer Wut schleuderten die Soldaten brennende Fackeln in die Kammern rund um den Tempel und metzelten eine große Anzahl Flüchtender nieder, die dort Schutz gesucht hatten. Das Blut floss wie Wasser die Tempelstufen hinunter. Tausende und Abertausende von Juden kamen um. Das Schlachtgetöse wurde übertönt von dem Ruf »Ikabod!« - die Herrlichkeit ist dahin. VSL 34.1
»Titus war es unmöglich, der Wut der Soldaten Einhalt zu gebieten; er trat mit seinen Offizieren ein und besichtigte das Innere des heiligen Gebäudes. Der Glanz erregte ihre Bewunderung, und da die Flammen noch nicht bis zum Heiligtum vorgedrungen waren, unternahm er einen letzten Versuch, es zu retten. Er sprang vor und forderte die Mannschaften auf, das Umsichgreifen der Feuersbrunst zu verhindern. Der Hauptmann Liberalis versuchte, mit seinen Stabsoffizieren Gehorsam zu erzwingen; doch durch die rasende Feindseligkeit gegen die Juden, durch die heftige Aufregung des Kampfes und durch die unersättliche Beutegier verloren sie die Achtung vor ihren Befehlshabern. Die Soldaten sahen alles um sich herum von Gold blitzen, das in dem wilden Lodern der Flammen einen blendenden Glanz ausstrahlte. Sie vermuteten unermessliche Schätze im Heiligtum. Unbemerkt warf ein Soldat eine brennende Fackel zwischen die Angeln der Tür, und im Nu stand das ganze Gebäude in Flammen. Die dichten Rauchschwaden und das Feuer zwangen die Offiziere, sich zurückzuziehen und das herrliche Gebäude seinem Schicksal zu überlassen. VSL 34.2
War es schon für die Römer ein erschreckendes Schauspiel, wie mögen es erst die Juden empfunden haben? Die Anhöhe, welche die Stadt weit überragte, erschien wie ein feuerspeiender Berg. Ein Gebäude nach dem andern stürzte mit furchtbarem Krachen in sich zusammen und wurde von dem feurigen Abgrund verschlungen. Die Dächer aus Zedernholz glichen einem Feuermeer, die vergoldeten Zinnen glänzten wie flammende Feuerzungen, aus den Türmen der Tore schossen hohe Flammen und Rauchsäulen empor. Die benachbarten Hügel waren erleuchtet. Gespenstisch wirkende Zuschauergruppen verfolgten in fürchterlicher Angst die fortschreitende Zerstörung. Auf den Mauern und Höhen der oberen Stadt drängte sich Kopf an Kopf. Manche waren bleich vor Angst und Verzweiflung, andere blickten düster, in ohnmächtiger Rache. Die Rufe der hin und hereilenden römischen Soldaten und das Heulen der Aufständischen, die in den Flammen umkamen, vermischten sich mit dem Brüllen der Feuersbrunst und dem donnernden Krachen des einstürzenden Gebälks. Das Echo antwortete von den Bergen und ließ die Schreckensrufe des Volkes auf den Höhen widerhallen. Entlang der Mauern erscholl Angstgeschrei und Wehklagen. Menschen, die von der Hungersnot erschöpft im Sterben lagen, rafften alle Kraft zusammen, um einen letzten Schrei der Angst und Verlassenheit auszustoßen. VSL 35.1
Das Blutbad im Innern war noch schrecklicher als der Anblick von außen. Männer und Frauen, Alt und Jung, Aufrührer und Priester, Kämpfende und um Gnade Flehende wurden unterschiedslos niedergemetzelt. Die Anzahl der Erwürgten überstieg die der Würger. Die Legionäre mussten über Berge von Toten hinwegsteigen, um ihr Vertilgungswerk fortsetzen zu können.” (MHJ, XIII; vgl. JGJL, VI, 5) VSL 35.2