Die Folge davon war, dass alles ganz anders kam, als Rom es eigentlich wollte. Das Vorgehen der Kirche führte nicht dazu, dass sich die Masse blind ihren Lehrsätzen unterwarf, sondern es brachte Ungläubige und Revolutionäre hervor. Diese verachteten die römische Kirche als Priesterzunft, und den Klerus betrachteten sie als mitverantwortlich für ihre Unterdrückung. Der einzige Gott, den die Massen kannten, war der Gott Roms, und die römische Lehre war die einzige bekannte Religion. Sie betrachteten römische Gier und Grausamkeit als logische »Früchte« biblischer Lehre und wollten davon nichts mehr wissen. VSL 257.1
Rom hatte den Charakter Gottes falsch dargestellt und die göttlichen Forderungen verdreht. Nun verwarfen die Menschen die Bibel samt ihrem Urheber. Die römische Kirche verlangte blinden Glauben an ihre Dogmen, die angeblich biblisch waren. Als Reaktion darauf verwarfen Voltaire und seine Anhänger die biblischen Lehren völlig und verbreiteten überall das Gift des Unglaubens. Rom zermalmte das Volk unter seinen eisernen Füßen, und als Folge entledigten sich die erniedrigten und brutal behandelten Massen nicht nur dieser Tyrannei, sie rissen auch alle anderen Schranken nieder. In ihrer Wut über den gleißenden Betrug, dem sie so lange gehuldigt hatten, verwarfen sie Wahrheit und Lüge gleichermaßen. In ihrer vermeintlichen Freiheit verwechselten diese Sklaven des Lasters Maßlosigkeit mit Freiheit. VSL 257.2
Der König war zu Beginn der Revolution zu Konzessionen bereit und billigte dem Volk eine Vertretung zu, die mehr Gewicht haben sollte als die des Adels und der Geistlichkeit zusammen. So verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Volkes, doch es war nicht vorbereitet, diese Macht mit Weisheit und Verhältnismäßigkeit auszuüben. Man wollte sich für erlittenes Leid einen Ausgleich schaffen und beschloss, die Gesellschaft neu zu gestalten. Eine aufgebrachte Menge, deren Geist von bitteren und lang gehegten Erinnerungen an Ungerechtigkeiten erfüllt war, war entschlossen, diese leidvollen und unerträglich gewordenen Verhältnisse umzustürzen und sich an jenen zu rächen, die sie als Urheber ihres Elends ansahen. Die Unterdrückten setzten jetzt das um, was sie unter der Tyrannenherrschaft gelernt hatten, und begannen jene zu unterdrücken, von denen sie zuvor unterdrückt worden waren. VSL 257.3
Das unglückliche Frankreich erntete auf blutige Weise, was es gesät hatte. Schrecklich waren die Folgen seiner Unterwerfung unter die Herrschermacht Roms. Wo Frankreich zu Beginn der Reformation unter dem Einfluss Roms den ersten Scheiterhaufen errichtet hatte, stellte die Revolution nun ihre erste Guillotine auf. An derselben Stelle, an der die ersten Märtyrer des protestantischen Glaubens im 16. Jahrhundert verbrannt waren, fielen im 18. Jahrhundert die ersten Opfer unter dem Fallbeil. Weil Frankreich das Evangelium von sich gewiesen hatte, wurde dem Unglauben und dem Verderben Tür und Tor geöffnet. Als die Schranken des göttlichen Gesetzes niedergerissen worden waren, stellte sich heraus, dass menschliche Gesetze nicht ausreichten, um die gewaltige Flut der Charakterlosigkeit zu zähmen. Das Land versank in Revolution und Anarchie. Der Krieg gegen die Bibel läutete eine Zeitepoche ein, die als Schreckensherrschaft in die Weltgeschichte eingegangen ist. Friede und Glück waren aus den Heimen und Herzen der Menschen verschwunden. Niemand fühlte sich sicher. Wer heute triumphierte, wurde morgen verdächtigt und abgeurteilt. Gewalt und Sinnlichkeit führten das Zepter. VSL 257.4
König, Geistlichkeit und Adel wurden gezwungen, sich der Grausamkeit eines zum Wahnsinn getriebenen Volkes zu fügen. Der König wurde hingerichtet, aber die Lust auf Rache wurde dadurch nur verstärkt und diejenigen, die ihn in den Tod geschickt hatten, folgten ihm bald auf dem Schafott. Ein allgemeines Gemetzel an all jenen wurde beschlossen, die im Verdacht standen, der Revolution gegenüber feindlich gesinnt zu sein. In den Gefängnissen drängten sich zu Zeiten mehr als 200.000 Häftlinge. In den Städten des Königreichs spielten sich Horrorszenen ab. Die Parteien der Revolution bekämpften sich gegenseitig, und Frankreich wurde zu einem gewaltigen Schlachtfeld streitender Volksmassen, die nur von ihrer Wut beherrscht wurden. »In Paris folgte ein Aufstand dem andern, und die Bürger waren in viele Parteien zersplittert, die es anscheinend auf nichts anderes als auf ihre gegenseitige Ausrottung abgesehen hatten.” Zu all dem Elend kam noch hinzu, dass das Land in einen langen und verheerenden Krieg mit den europäischen Großmächten hineingezogen wurde. »Das Land war beinahe bankrott, die Truppen schrien nach ihrem nicht ausbezahlten Sold, die Pariser waren am Verhungern, die Provinzen wurden von Räubern verwüstet und die Zivilisation ging beinahe unter in Anarchie und Zügellosigkeit.« VSL 258.1
Nur zu gut hatte das Volk die Lehre der Grausamkeit und Folter gelernt, die ihm Rom mit Ausdauer vorgeführt hatte. Der Tag der Vergeltung war schließlich gekommen. Nur wurden jetzt nicht mehr die Jünger Jesu in die Kerker geworfen und auf Scheiterhaufen geschleppt, denn diese Gläubigen waren längst umgekommen oder lebten im Exil. Nun bekam das unbarmherzige Rom die tödliche Macht derer selbst zu spüren, die es dazu erzogen hatte, an Bluttaten Gefallen zu finden. »Das Beispiel der Verfolgung, das die französische Geistlichkeit so lange gegeben hatte, wurde ihr nun mit großem Nachdruck vergolten. Die Schafotte färbten sich rot von dem Blut der Priester. Die Galeeren und Gefängnisse, die einst von Hugenotten gefüllt waren, wurden jetzt von deren Verfolgern bevölkert. An die Ruderbank gekettet und mühsam am Riemen ziehend, machte die katholische Geistlichkeit alle Qualen durch, die sie so reichlich über die friedliebenden Ketzer gebracht hatte.« VSL 258.2
»Dann kamen jene Tage, als die grausamsten aller Gesetze von dem unmenschlichsten aller Gerichtshöfe ausgeführt wurden. Niemand konnte seinen Nachbarn grüßen oder sein Gebet verrichten ... ohne Gefahr zu laufen, ein Kapitalverbrechen zu begehen. In jedem Winkel lauerten Spione. Allmorgendlich arbeitete die Guillotine lange und schwer. Die Gefängnisse waren so gedrängt voll wie die Räume eines Sklavenschiffes. In den Straßenrinnen eilte das Blut schäumend der Seine zu. ... Täglich wurden Wagenladungen mit Opfern durch die Straßen von Paris ihrem Schicksal entgegengefahren. Die Kommissare aber, die der Konvent in die Provinzen gesandt hatte, schwelgten in übermäßiger Grausamkeit, wie man sie selbst in der Hauptstadt nicht kannte. Das Messer der Todesmaschine stieg und fiel zu langsam für das Werk der Metzelei. Lange Reihen von Gefangenen mähte man mit Kartätschen nieder. Überfüllte Boote wurden am Boden angebohrt. Lyon wurde zur Wüste. In Arras blieb den Gefangenen selbst die grausame Barmherzigkeit eines schnellen Todes versagt. Die ganze Loire hinab, von Saumur bis zum Meer, fraßen Scharen von Krähen und Weihen an den nackten Leichnamen, die in abscheulicher Weise miteinander verschlungen waren. Weder Geschlecht noch Alter erwies man Barmherzigkeit. Die Anzahl der Jünglinge und Mädchen von 17 Jahren, die von dieser fluchwürdigen Regierung ermordet wurde, lässt sich nach Hunderten berechnen. Der Brust entrissene Säuglinge wurden von in Reihen stehenden Jakobinern von Spieß zu Spieß geworfen.” In dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren kamen Scharen von Menschen ums Leben. VSL 259.1