Nach der Zerstörung des Tempels fiel bald die ganze Stadt in die Hände der Römer. Die Obersten der Juden verließen die scheinbar uneinnehmbaren Türme, und Titus fand sie verlassen vor. Erstaunt darüber erklärte er, dass Gott sie in seine Hände gegeben habe, denn keine Kriegsmaschine, wie gewaltig sie auch sein mochte, hätte jene staunenswerten Festungsmauern bezwingen können. Die ganze Stadt mitsamt dem Tempel wurde bis auf die Grundmauern geschleift, und der Boden, auf dem das heilige Gebäude gestanden hatte, wurde »wie ein Acker gepflügt« (Jeremia 26,18). Während der Belagerung und dem darauf folgenden Gemetzel verloren mehr als eine Million Menschen ihr Leben. Überlebende wurden als Gefangene weggeführt, als Sklaven verkauft, nach Rom verschleppt und dort im Triumphzug des Eroberers durch die Stadt getrieben, in Amphitheatern wilden Tieren vorgeworfen oder als heimatlose Wanderer über die ganze Welt verstreut. VSL 35.3
Die Juden hatten sich ihre Fesseln selbst geschmiedet und den Becher der Rache gefüllt. Die vollständige Vernichtung ihrer Nation und all die Leiden, die ihnen in die Zerstreuung in alle Länder folgten, waren die Ernte einer Saat, die sie selbst gesät hatten. So sagt der Prophet: »Israel, du bringst dich ins Unglück«, »denn du bist gefallen um deiner Schuld willen.” (Hosea 13,9; 14,2) Ihre Leiden werden oft als Strafe dargestellt, mit der sie auf einen direkten Befehl Gottes hin heimgesucht wurden. Auf diese Weise versucht der große Betrüger, sein eigenes Werk zu verbergen. Halsstarrig hatten sie die Liebe und Gnade Gottes zurückgewiesen und so den Schutz Gottes selbst verloren. So konnte Satan über sie bestimmen, wie es ihm gefiel. Die schrecklichen Grausamkeiten, die bei der Zerstörung Jerusalems verübt wurden, sind der Beweis dafür, wie rachsüchtig Satan seine Macht über jene ausübt, die sich seiner Herrschaft unterstellen. VSL 36.1
Wir können kaum ermessen, wie sehr wir Christus unseren Frieden und Schutz verdanken. Nur die Macht Gottes hält Satan davon ab, die Menschheit ganz unter seine Herrschaft zu bringen. Ungehorsame und Undankbare hätten allen Grund, für Gottes Gnade und Langmut dankbar zu sein, denn er ist es, der die grausame Macht des Bösen im Zaum hält. Wenn man jedoch die Grenzen der göttlichen Geduld überschreitet, werden diese Beschränkungen aufgehoben. Für den Sünder ist Gott in diesem Moment aber nicht der Gerichtsvollzieher, der den Richterspruch umsetzt. Wer die göttliche Gnade verwirft, wird sich selbst überlassen und wird ernten, was er gesät hat. Jeder verworfene Lichtstrahl, jede verschmähte oder unbeachtete Warnung, jede geduldete Leidenschaft, jede Übertretung des Gesetzes Gottes ist eine Saat, die ihre entsprechende Ernte hervorbringt. Wird dem Geist Gottes beharrlich widerstanden, zieht er sich schließlich von dem Sünder zurück. Keine Macht kann dann die bösen Leidenschaften der Seele im Zaum halten, und es gibt keinen Schutz vor der Boshaftigkeit und Feindschaft Satans. Die Zerstörung Jerusalems ist eine furchtbare und ernsthafte Warnung für alle, die das Angebot der göttlichen Gnade auf die leichte Schulter nehmen und den Ermahnungen der göttlichen Barmherzigkeit widerstehen. Nie hat Gott ein deutlicheres Zeugnis dafür gegeben, wie groß seine Abscheu vor der Sünde ist und welch sichere Strafe der Schuldige auf sich zieht. VSL 36.2
Die Weissagung des Heilands über die Zerstörung Jerusalems wird sich noch auf eine andere Weise erfüllen, von der jene schreckliche Verwüstung uns nur eine schwache Vorahnung lieferte. In dem Schicksal dieser auserwählten Stadt können wir das Schicksal einer Welt erkennen, die Gottes Barmherzigkeit verschmäht und sein Gesetz mit Füßen getreten hat. Die Geschichte menschlichen Elends, das jahrhundertelang über die Erde hereinbrach, ist grauenhaft und düster. Das Herz wird beklommen und der Geist verzagt, wenn wir über diese Dinge nachdenken. Schrecklich waren die Folgen, die die Ablehnung der Autorität des Himmels nach sich zog. Doch ein noch furchtbareres Bild wird uns in den Offenbarungen über die Zukunft enthüllt. Die Berichte der Vergangenheit - die lange Reihe von Aufständen, Kämpfen und Revolutionen, alle Kriege »mit Gedröhn ... und jeder Mantel, durch Blut geschleift« (Jesaja 9,4) -, was sind diese, verglichen mit den Schrecken jenes Tages, wenn der Geist Gottes den Gottlosen seinen Beistand ganz entzieht und die Ausbrüche menschlicher Leidenschaften und satanischer Wut nicht mehr zügelt! Dann wird die Welt wie niemals zuvor die entsetzlichen Folgen der Herrschaft Satans erkennen. VSL 37.1