Am folgenden Tag musste er wieder erscheinen, um seine endgültige Antwort zu geben. Als er darüber nachdachte, welch große Mächte sich gegen die Wahrheit verbündet hatten, verließ ihn für einige Augenblicke der Mut. Sein Glaube schwankte, Furcht und Zittern ergriffen ihn und Schrecken überwältigte ihn. Gefahren türmten sich vor ihm auf, seine Feinde schienen zu siegen, und die Mächte der Finsternis die Oberhand zu gewinnen. Wolken umgaben ihn und schienen ihn von Gott zu trennen. Er sehnte sich nach der Gewissheit, dass der Herr der Heerscharen mit ihm sei. In seiner Seelennot warf er sich auf sein Angesicht und stieß jene gebrochenen und herzzerreißenden Schreie aus, die niemand außer Gott völlig verstehen kann. VSL 146.2
Er betete: »Allmächtiger, ewiger Gott! Wie ist es nur ein Ding um die Welt! Wie sperrt sie den Leuten die Mäuler auf, und ich habe so wenig Vertrauen in dich. ... Wenn es nur die Kraft dieser Welt ist, in die ich mein Vertrauen setze, ist alles vorbei. ... Meine letzte Stunde ist gekommen, meine Verdammung ist ausgesprochen. ... Ach Gott! O du mein Gott, stehe du mir bei wider alle Welt, Vernunft und Weisheit. Tue du es; du musst es tun, du allein. Ist es doch nicht meine, sondern deine Sache. Habe ich doch für meine Person hier nichts zu schaffen und mit diesen großen Herren der Welt zu tun. . Aber dein ist die Sache, Herr, die gerecht und ewig ist. Stehe mir bei, du treuer, ewiger Gott! Ich verlasse mich auf keinen Menschen. Es ist umsonst und vergebens, es hinket alles, was fleischlich ist. ... Hast du mich dazu erwählet? ... Steh mir bei in dem Namen deines lieben Sohnes Jesu Christi, der mein Schutz und Schirm sein soll, ja meine feste Burg.” (DAGR, vgl. LEA, LXIV, 289 ff.) VSL 146.3
Eine weise Vorsehung hatte Luther seine Notlage erkennen lassen, damit er nicht auf seine eigene Kraft vertraute und sich selbstsicher in Gefahr stürzte. Es war jedoch keine Furcht vor persönlichem Leiden, keine Angst vor Folter oder Tod, die ihm unmittelbar drohten und ihn nun mit Schrecken erfüllten. Er war an einem Punkt angekommen, wo er alleine nicht mehr weiter wusste. Durch seine Schwäche hätte die Sache der Wahrheit Schaden erleiden können. Er rang mit Gott nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um den Sieg des Evangeliums. Seine Angst glich dem Ringen Jakobs an dem einsamen Bach. Wie Israel errang auch er den Sieg vor Gott. In seiner vollkommenen Hilflosigkeit klammerte er sich an Christus, den mächtigen Befreier. Er wurde gestärkt durch die Zusicherung, dass er nicht allein vor den Reichstag treten müsse. Friede kehrte in seine Seele zurück, und er freute sich, dass es ihm vergönnt war, das Wort Gottes vor all den Herrschern dieser Welt hochzuhalten. VSL 146.4
In festem Gottvertrauen bereitete sich Luther auf den ihm bevorstehenden Kampf vor. Er überlegte, wie er antworten könnte, sah Stellen in seinen eigenen Schriften durch und suchte in der Heiligen Schrift nach passenden Beweisen, die seine Positionen stützten. Dann legte er seine linke Hand auf die Heilige Schrift, die offen vor ihm lag, hob seine rechte Hand zum Himmel und gelobte, »dem Evangelium treu zu bleiben und seinen Glauben frei zu bekennen, sollte er ihn auch mit seinem Blute besiegeln” (DAGR, VII, 8). VSL 147.1
Als er wieder in den Reichstag geführt wurde, zeigte sein Gesicht keine Spuren von Furcht und Verlegenheit. Ruhig und friedvoll, dennoch erhaben, großmütig und edel stand er als Zeuge Gottes vor den Großen dieser Welt. Der Kaiserliche Beamte verlangte nun nach der Entscheidung. War Luther jetzt gewillt, seine Lehren zu widerrufen? In gedämpftem und bescheidenem Ton, maßvoll und ohne Erregung trug Luther seine Antwort vor. Sein Benehmen war zurückhaltend und ehrerbietig, strahlte jedoch zur Überraschung der Versammlung dennoch Zuversicht und Freude aus. VSL 147.2