Schließlich stand Luther vor dem Reichstag. Der Kaiser saß auf seinem Thron und war umgeben von den erlauchtesten Persönlichkeiten des Reichs. Nie zuvor war ein Mensch einer eindrucksvolleren Versammlung gegenübergetreten. Hier sollte Martin Luther für seinen Glauben Rede und Antwort stehen. »Sein Erscheinen allein war ein außerordentlicher Sieg über das Papsttum. Der Papst hatte diesen Mann verurteilt, und dieser stand jetzt vor einem Gericht, das sich dadurch über den Papst stellte. Der Papst hatte ihn in den Bann getan, von aller menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, und dennoch war er mit höflichen Worten vorgeladen und erschien nun vor der erlauchtesten Versammlung der Welt. Der Papst hatte ihn zu ewigem Schweigen verurteilt und jetzt sollte er vor Tausenden aufmerksamer Zuhörer aus den fernsten Ländern der Christenheit reden. So kam durch Luther eine gewaltige Revolution zustande: Rom stieg von seinem Thron herab und das Wort eines Mönches gab die Veranlassung.” (DAGR, VII, 8) VSL 144.4
Vor dieser mächtigen adligen Versammlung schien der Reformator, der aus einfachen Verhältnissen stammte, eingeschüchtert und verlegen. Mehrere Fürsten bemerkten seine Gefühlsregungen, und einer von denen, die sich ihm genähert hatten, flüsterte ihm zu: »Fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten.« Ein anderer sagte: »Wenn Ihr vor Fürsten und Könige geführt werdet um meinetwillen, wird es Euch durch den Geist Eures Vaters gegeben werden, was Ihr reden sollt.« (Siehe MLL, 53.) Aus dem Mund großer weltlicher Herren stärkten die Worte Christi seinen Diener in der Stunde der Prüfung. VSL 145.1
Luther wurde direkt vor den Thron des Kaisers geführt. Es herrschte Totenstille im überfüllten Saal. Dann erhob sich ein kaiserlicher Beamter, zeigte auf einen Stapel Bücher und wollte von Luther zwei Fragen beantwortet haben: ob er dieselben als die seinigen anerkenne und ob er die Ansichten widerrufen wolle, die er darin verbreitet hatte. Nachdem die Buchtitel vorgelesen worden waren, antwortete Luther, indem er die erste Frage bestätigte, diese Bücher geschrieben zu haben. »Was die zweite Frage betrifft«, fuhr er fort, »weil dies eine Frage vom Glauben und der Seelen Seligkeit ist und das göttliche Wort betrifft, was das höchste ist im Himmel und auf Erden ... da wäre es vermessen und sehr gefährlich, etwas Unbedachtes auszusprechen. Ich könnte ohne vorherige Überlegung leicht weniger behaupten, als die Sache erfordert, oder mehr als der Wahrheit gemäß wäre, und durch das eine und andere jenem Urteile Christi verfallen: ›Wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich vor meinem himmlischen Vater auch verleugnen‹ (Matthäus 10,33). Deshalb bitte ich Eure Kaiserliche Majestät aufs Alleruntertänigste um Bedenkzeit, damit ich ohne Nachteil für das göttliche Wort und ohne Gefahr für meine Seele dieser Frage genugtue.” (DAGR, VII, 8; vgl. LEA, LXIV, 377 ff; op. lat. XXXVII, 5-8) VSL 145.2
Es war klug von Luther, dieses Gesuch zu stellen. Sein Vorgehen überzeugte die Versammlung davon, dass er nicht impulsiv oder unüberlegt handelte. Solche Ruhe und Selbstbeherrschung, die von einem Menschen nicht erwartet wurden, der stets kühn und unnachgiebig war, trug zu seiner Überlegenheit bei und befähigte ihn später, seine Antworten mit Vorsicht, Entschiedenheit, Weisheit und Würde vorzutragen, was seine Gegner überraschte und enttäuschte und ihre Anmaßung und ihren Stolz bändigte. VSL 146.1