Abgeordnete, die ihre Augen hartnäckig vor dem Licht verschlossen und nicht bereit waren, sich von der Wahrheit überzeugen zu lassen, gerieten durch die vollmächtigen Worte Luthers in Wut. Als er seine Rede beendet hatte, sagte der Sprecher des Reichstags zornig: »Sie haben die Fragen nicht beantwortet, die Ihnen vorgelegt wurden. ... Sie werden hiermit aufgefordert, klar und deutlich zu antworten. ... Wollen Sie widerrufen oder nicht?” VSL 149.2
Darauf erwiderte der Reformator: »Weil denn Eure Majestät und die Herrschaften eine einfache Antwort begehren, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne hat, dermaßen: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.” (DAGR, VII, 8; vgl. LEA, LXIV, 382 ff.) VSL 149.3
Damit stellte sich dieser rechtschaffene Mann auf das sichere Fundament des Wortes Gottes. Das Licht des Himmels erleuchtete sein Angesicht. Die Größe und Reinheit seines Charakters, sein Friede und seine Herzensfreude wurden jedermann deutlich, als er gegen die Macht des Irrtums aussagte und die Überlegenheit des Glaubens bezeugte, der die Welt überwindet. VSL 149.4
Der ganzen Versammlung hatte es vor Verwunderung eine Zeit lang die Sprache verschlagen. Seine erste Antwort hatte Luther in leisem Ton und in ehrerbietiger, fast unterwürfiger Art vorgetragen. Die Anhänger Roms deuteten dies als ein Zeichen, dass ihm der Mut sank. Sein Gesuch um Bedenkzeit betrachteten sie als Vorbereitung zum Widerruf. Kaiser Karl, der halb verächtlich die erschöpfte Gestalt, das schlichte Äußere und das einfache Auftreten des Mönchs betrachtete, hatte selbst erklärt: »Dieser Mönch soll mich nicht zum Ketzer machen.” Der Mut und die Festigkeit, die Luther nun an den Tag legte, überraschte die Parteien ebenso wie die Kraft und die Klarheit seiner Argumente. Der Kaiser war vor Bewunderung hingerissen und rief: »Dieser Mönch redet unerschrocken, mit getrostem Mut!« Viele deutsche Fürsten blickten mit Stolz und Freude auf diesen Vertreter ihrer Nation. VSL 149.5
Die Anhänger Roms waren geschlagen. Ihre Sache erschien in einem äußerst ungünstigen Licht. Um ihre Macht zu erhalten, beriefen sie sich nicht etwa auf die Heilige Schrift, sondern flüchteten sich in Drohungen, einem stets erfolgreichen Machtmittel Roms. Der Sprecher des Reichstags sagte: »Falls Ihr nicht widerruft, werden der Kaiser und die Fürsten und die Stände miteinander beraten, wie mit einem solch unkorrigierbaren Ketzer verfahren werden müsse.” VSL 150.1
Luthers Freunde, die freudig seiner vortrefflichen Verteidigungsrede zugehört hatten, zitterten bei diesen Worten. Aber der Doktor selbst bemerkte gelassen: »So helf mir Gott, denn einen Widerruf kann ich nicht tun.« (DAGR, VII, 8; vgl. WLS, XV, 2234/2235) VSL 150.2
Legat Und Kaiser ... VSL 150.3
Luther wurde angewiesen, den Saal zu verlassen, während sich die Fürsten zur Beratung versammelten. Sie erkannten, dass es zu einer großen Krise gekommen war. Luthers beharrliche Weigerung, sich zu fügen, könnte die Geschichte der Kirche für Jahrhunderte beeinflussen. Es wurde beschlossen, ihm nochmals Gelegenheit zum Widerruf zu geben. Er wurde zum letzten Mal vor den Reichstag gebracht. Wiederum wurde ihm die Frage gestellt, ob er seine Lehren widerrufen wolle. Luther wiederholte: »Ich weiß keine andere Antwort zu geben wie die bereits vorgebrachte.” (LLA, XVII, 580) Es war offensichtlich, dass er weder durch Versprechungen noch durch Drohungen dazu bewegt werden konnte, den Anweisungen Roms Folge zu leisten. VSL 150.4
Die Vertreter Roms ärgerten sich, dass ihre Macht, die Könige und Adlige hatte erzittern lassen, von einem bescheidenen Mönch derart missachtet wurde. Er sollte ihren Zorn zu spüren bekommen, und sie wollten ihn zu Tode foltern. Obwohl Luther die drohende Gefahr erkannte, sprach er alle in christlicher Würde und Gelassenheit an. Seine Worte waren frei von Stolz, Eifer und Verdrehungen. Er hatte sich selbst und die großen Männer um sich herum völlig aus den Augen verloren und fühlte sich in der Gegenwart dessen, der unendlich höher war als Päpste, Prälaten, Könige und Kaiser. Christus hatte durch Luthers Zeugnis mit einer solchen Vollmacht und Erhabenheit gesprochen, dass Freund und Feind vorübergehend in Ehrfurcht und Staunen versetzt wurden. Der Geist Gottes war in jener Versammlung zugegen und ergriff die Herzen der Großen des Reichs. Mehrere Fürsten anerkannten mutig, dass Luthers Sache richtig war. Viele waren von der Wahrheit überzeugt, aber bei einigen währten die Eindrücke nicht lange. Dann gab es eine andere Gruppe, die sich zunächst mit ihrer Meinung zurückhielt, die aber die Schrift durchforschte und später zu furchtlosen Unterstützern der Reformation wurden. VSL 150.5
Kurfürst Friedrich von Sachsen war gespannt auf Luthers Auftritt vor dem Reichstag und lauschte seiner Rede tief gerührt. Mit Stolz und Freude verfolgte er den Mut, die Entschlossenheit und Selbstbeherrschung des Gelehrten und war mehr denn je entschlossen, diesen Mann zu verteidigen. Als er die streitenden Parteien miteinander verglich, erkannte er, dass die Weisheit von Päpsten, Königen und Prälaten durch die Macht der Wahrheit zunichte gemacht worden war. Das Papsttum hatte eine Niederlage erlitten, die unter allen Völkern und zu allen Zeiten spürbar bleiben sollte. VSL 151.1
Als der Legat erkannte, welche Wirkung Luthers Rede auf die Zuhörer ausgeübt hatte, fürchtete er wie nie zuvor um den Erhalt der römischen Macht. Er war bereit, jedes ihm zur Verfügung stehende Mittel einzusetzen, um den Reformator zu beseitigen. Mit all seiner Beredsamkeit und seinem diplomatischen Geschick, das ihn in so hohem Maße auszeichnete, warnte er den jungen Kaiser (etwa 21-jährig) vor der Torheit und Gefahr, die Freundschaft und Unterstützung des mächtigen Heiligen Stuhls wegen eines unbedeutenden Mönchs aufs Spiel zu setzen. VSL 151.2
Seine Worte blieben nicht ohne Wirkung. Schon am Tag nach Luthers Antwort teilte Karl35Siehe Glossar »Kaiser Karl V.«, S. 664. dem Reichstag mit, dass er entschlossen sei, die Politik seiner Vorfahren weiterzuführen, die katholische Religion zu schützen und zu erhalten. Da sich Luther geweigert habe, seinen Irrtümern abzuschwören, müssten nun die schwersten Maßnahmen gegen ihn und seine ketzerischen Lehren ergriffen werden. »Es sei offenkundig, dass ein durch seine eigene Torheit verleiteter Mönch der Lehre der ganzen Christenheit widerstreite ... so bin ich fest entschlossen, alle meine Königreiche, meine Schätze, meine Freunde, meinen Leib, mein Blut, meine Seele und mein Leben daran zu setzen, dass dies gottlose Vornehmen nicht weiter um sich greife. ... Ich gebiete demnach, dass er sogleich nach der Vorschrift des Befehls wieder heimgebracht werde und sich laut des öffentlichen Geleites in Acht nehme, nirgends zu predigen, noch dem Volk seine falschen Lehren weiter vorzutragen. Denn ich habe fest beschlossen, wider ihn als einen offenbaren Ketzer zu verfahren. Und begehre daher von Euch, dass Ihr in dieser Sache dasjenige beschließet, was rechten Christen gebührt und wie Ihr zu tun versprochen habt.” (DAGR, VII, 9; vgl. WLS, XIV, 2236/2237) Dennoch erklärte der Kaiser, dass das freie Geleit eingehalten werden und Luther zuerst sicher nach Hause kommen müsse, bevor Maßnahmen gegen ihn ergriffen werden könnten. VSL 151.3