Für diese Stunde der Gefahr hatte Gott seinem Diener einen Fluchtweg vorbereitet. Ein wachsames Auge hatte Luthers Wege verfolgt, und ein aufrichtiges und edles Herz hatte sich entschlossen, ihn zu retten. Es war eindeutig, dass Rom nur durch seinen Tod zufrieden gestellt werden konnte. Nur durch ein Versteck konnte Luther aus den Klauen des Löwen in Sicherheit gebracht werden. Gott verlieh Friedrich von Sachsen die Weisheit für einen Plan, wie Luther bewahrt werden konnte. Zusammen mit wahren Freunden wurde dieses Vorhaben ausgeführt und Luther unauffindbar vor Freunden und Feinden versteckt. Auf seiner Heimreise wurde Luther ergriffen, von seinen Begleitern getrennt, in höchster Eile durch einsame Wälder verschleppt und auf eine abgelegene Festung, die Wartburg, gebracht. Seine Entführung geschah unter solch geheimnisvollen Umständen, dass selbst Friedrich lange nicht wusste, wohin der Reformator gebracht worden war. Der Kurfürst wurde mit voller Absicht in Unkenntnis gelassen, denn solange er nichts über Luthers Aufenthaltsort wusste, konnte er dazu keine Auskunft geben. Er begnügte sich mit der Gewissheit, dass der Reformator in Sicherheit war. VSL 156.3
Frühling, Sommer und Herbst vergingen, der Winter kam, und Luther war immer noch ein Gefangener. Aleander und seine Freunde frohlockten, denn sie glaubten, das Licht des Evangeliums sei ausgelöscht. Stattdessen füllte der Reformator seine Lampe aus dem Speicher der Wahrheit auf, und das Licht leuchtete umso heller. VSL 157.1
In der sicheren Abgeschiedenheit der Wartburg freute sich Luther eine Zeit lang über seine Geborgenheit vor der Hitze des Kampfgetümmels. Aber dann belasteten ihn die Stille und Ruhe. Er war an ein Leben der Tat und des harten Kampfes gewöhnt und konnte es schwer ertragen, untätig zu sein. An diesen einsamen Tagen dachte er oft an den Zustand der Kirche, und verzweifelt rief er: »Aber, es ist niemand, der sich aufmache und zu Gott halte oder sich zur Mauer stelle für das Haus Israel an diesem letzten Tage des Zorns Gottes!” (DAGR, IX, 2; vgl. EMLB, XXI, 148, 12.5. 1521, an Melanchthon) Wiederum waren seine Gedanken nach innen gerichtet, und er fürchtete, der Feigheit beschuldigt zu werden, weil er sich aus dem Zwist zurückgezogen hatte. Dann machte er sich Vorwürfe wegen seiner Passivität und der Behaglichkeit, in der er lebte. Doch er erreichte zu dieser Zeit mehr, als es für einen einzelnen Menschen möglich schien. Nie war seine Feder untätig. Während seine Feinde sich der Illusion hingaben, er sei zum Schweigen gebracht, wurden sie durch den Beweis des Gegenteils in Erstaunen und Verwirrung versetzt. Eine Fülle von Abhandlungen aus seiner Feder36Siehe Glossar »Luthers literarische Tätigkeit während der Wartburgzeit«, S. 666. machten in ganz Deutschland die Runde. Einen ganz besonderen Dienst erwies er seinen Volksgenossen durch die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche. Von seinem felsigen Patmos verkündigte er fast ein ganzes Jahr lang das Evangelium und tadelte die Sünden und Irrtümer seiner Zeit. VSL 157.2
Gott hatte seinen Diener aber nicht nur deswegen aus dem öffentlichen Leben genommen, um ihn vor dem Zorn seiner Feinde zu bewahren und ihm bei seiner wichtigen Aufgabe eine Zeit der Ruhe zu gönnen. Diese Zeit sollte noch weit wertvollere Ergebnisse hervorbringen. In der Einsamkeit und Abgeschiedenheit seines Zufluchtsortes in den Bergen war Luther von irdischen Helfern getrennt und fernab von menschlichem Lob. Das bewahrte ihn vor Stolz und Selbstsicherheit, die Erfolg sonst so oft hervorruft. Leid und Demütigung bereiteten ihn wiederum darauf vor, in der schwindelerregenden Höhe sicher zu gehen, auf die er so plötzlich erhoben worden war. VSL 158.1
Wenn sich Menschen der Freiheit erfreuen, die die Wahrheit bringt, sind sie geneigt, jene zu loben, durch die Gott die Ketten ihres Irrtums und ihres Aberglaubens brechen ließ. Satan versucht immer wieder, die Gedanken und Neigungen des Menschen von Gott abzulenken und auf menschliche Mittler zu richten. Er bringt sie dazu, nur das Werkzeug zu ehren und die Hand, die alle Ereignisse durch Vorsehung lenkt, zu missachten. Nur allzu oft werden religiöse Verantwortungsträger gelobt und geehrt, die dann aber ihre Abhängigkeit von Gott vergessen und auf sich selbst vertrauen. Das Endergebnis davon ist, dass sie versuchen werden, das Gewissen und die Sinne der Menschen zu beherrschen, die sich dann der Führung dieser Leute anvertrauen, statt auf das Wort Gottes zu schauen. Das Werk der Erneuerung wird oft durch den Geist gehemmt, dem diese Anhänger unterliegen. Vor dieser Gefahr wollte Gott die Reformation bewahren. Er wollte, dass dieses Werk das Siegel Gottes und nicht das eines Menschen trug. Die Menschen hatten ihren Blick auf Luther, den Ausleger der Wahrheit gerichtet. Er wurde von ihnen genommen, damit sich alle dem ewigen Begründer der Wahrheit selbst zuwenden sollten. VSL 158.2