Wenige Wochen nachdem Luther in der Hütte eines sächsischen Bergmanns zur Welt gekommen war, wurde Ulrich Zwingli am Fuß der Alpen im Haus eines Bergbauern (in Wildhaus im Toggenburg) geboren. Die Umgebung, in der Zwingli aufwuchs und seine erste Bildung waren eine gute Vorbereitung für seine künftige Aufgabe. Er wuchs inmitten einer Bergwelt von natürlicher Schönheit und würdevoller Erhabenheit auf und erhielt schon früh einen Sinn für die Größe, Macht und Majestät Gottes. Die Berichte über die Heldentaten, die in seinen heimatlichen Bergen vollbracht wurden, entfachten in ihm jugendliche Sehnsüchte. Zu Füßen seiner frommen Großmutter lauschte er den wenigen kostbaren Erzählungen aus der Bibel, die ihr aus Legenden und Überlieferungen der Kirche zu Ohren gekommen waren. Gespannt hörte er von den großen Taten der Patriarchen und Propheten, von den Hirten, die ihre Herden auf den Hügeln von Palästina weideten, wo Engel mit ihnen sprachen, vom Kind zu Bethlehem und dem Mann auf Golgatha. VSL 159.2
Wie Hans Luther wollte auch Zwinglis Vater seinem Sohn eine gute Ausbildung ermöglichen. Der Knabe musste daher sein heimatliches Tal schon bald verlassen. Sein Geist entwickelte sich rasch und schon bald stellte sich die Frage, wo es Lehrer gab, die sachkundig genug waren, um ihn auszubilden. So kam er mit 13 Jahren nach Bern, wo sich damals die bedeutendste Schule der Schweiz befand. Hier geriet er jedoch in eine Gefahr, die seine vielversprechende Zukunft bedrohte. Mönche bemühten sich beharrlich, ihn zum Eintritt in ein Kloster zu bewegen. Die Dominikaner und Franziskanermönche konkurrierten um die Gunst des Volks. Mit glänzendem Schmuck in ihren Kirchen, prunkvollen Zeremonien und dem Zauber berühmter Reliquien und Wunder wirkender Bilder wetteiferten sie miteinander. VSL 160.1
Die Berner Dominikaner erkannten, dass ihnen Profit und Ehre winkten, wenn sie diesen talentierten jungen Studenten für sich gewinnen könnten. Er war noch sehr jung, besaß eine natürliche Schreib und Redegabe und hatte einzigartige musikalische und dichterische Fähigkeiten. Das würde ihre Gottesdienste für das Volk weit anziehender machen als all ihr Pomp und ihre Zurschaustellung und die Einnahmen für ihren Orden würden steigen. Mit List und Schmeichelei versuchten sie Zwingli zum Eintritt in ihr Kloster zu verleiten. Luther hatte sich während seiner Studienzeit in eine Klosterzelle zurückgezogen. Hätte ihn Gottes Vorsehung nicht dort herausgeholt, wäre er der Welt verloren gegangen. Doch Zwingli sollte gar nicht erst in diese Gefahr geraten. Glücklicherweise kamen seinem Vater die Absichten der Klosterbrüder zu Ohren. Er dachte nicht daran, seinem Sohn zu erlauben, das untätige und nutzlose Leben der Mönche zu teilen. Weil er erkannte, dass hier die zukünftige Brauchbarkeit seines Sohnes auf dem Spiel stand, wies er ihn an, unverzüglich nach Hause zurückzukehren. VSL 160.2
Der junge Mann gehorchte, blieb jedoch nicht sehr lange in seinem heimatlichen Tal. Er nahm seine Studien wieder auf und begab sich wenig später nach Basel. Hier hörte Zwingli zum ersten Mal die gute Nachricht von der freien Gnade Gottes. Thomas Wyttenbach (1472-1526, Reformator von Biel), ein Lehrer der alten Sprachen, wurde durch das Studium des Griechischen und Hebräischen zur Heiligen Schrift geführt, und Strahlen göttlichen Lichts fielen durch seine Lehrtätigkeit auch auf seine Studenten. Er erklärte, es gebe eine ältere und wertvollere Wahrheit als die Theorien der Lehrer und Philosophen. (SZLW, I, 41) »Er widerlegte den päpstlichen Ablass und die Verdienstlichkeit der sogenannten guten Werke und behauptete, der Tod Christi sei die einzige Genugtuung für unsere Sünden.” (WHK, XXI, 452) Für Zwingli waren diese Worte der erste Lichtstrahl in der Morgendämmerung. VSL 161.1