Auf der Grundlage von Apostelgeschichte 25,13-27; Apostelgeschichte 26.
Paulus hatte sich auf den Kaiser berufen, und Festus konnte nicht umhin, ihn nach Rom zu senden. Es verstrich jedoch geraume Zeit, bis sich ein passendes Schiff fand. Außerdem sollten mit Paulus noch andere Gefangene reisen, und die Untersuchung ihrer Fälle verzögerte ebenfalls die Abreise. Dadurch erhielt Paulus Gelegenheit, die Gründe seines Glaubens nicht nur vor den maßgebenden Männern von Cäsarea, sondern auch vor König Agrippa II., dem letzten der Herodianer, darzulegen. WA 427.1
“Nach etlichen Tagen kamen der König Agrippa und Bernice nach Cäsarea, Festus zu begrüßen. Und als sie etliche Tage daselbst gewesen waren, legte Festus dem König die Sache des Paulus vor und sprach: Es ist ein Mann von Felix zurückgelassen als Gefangener, um welches willen die Hohenpriester und Ältesten der Juden vor mir erschienen, als ich zu Jerusalem war, und baten, ich sollte ihn richten lassen.” Apostelgeschichte 25,13-15. Dann berichtete er, was den Gefangenen veranlaßt hatte, sich auf den Kaiser zu berufen, erzählte von dem kürzlich erfolgten Verhör und sagte, daß die Juden keine Anklage gegen Paulus vorgebracht hätten, wie er sie erwartet habe, sondern nur “etliche Streitfragen wider ihn von ihrem Glauben und von einem verstorbenen Jesus, von welchem Paulus sagte, er lebe.” Apostelgeschichte 25,19. WA 427.2
Als Festus diesen Bericht gab, wurde Agrippa aufmerksam und meinte: “Ich möchte den Menschen auch gerne hören.” Um diesen Wunsch zu erfüllen, wurde für den nächsten Tag eine Zusammenkunft anberaumt. “Und am andern Tage kamen Agrippa und Bernice mit großem Gepränge und gingen in das Richthaus mit den Hauptleuten und vornehmsten Männern der Stadt, und da es Festus befahl, ward Paulus gebracht.” Apostelgeschichte 25,22.23. WA 427.3
Bei dieser Gelegenheit war Festus darauf bedacht, zu Ehren seiner Besucher großen Prunk zu entfalten. Die kostbaren Gewänder des Landpflegers und seiner Gäste, die Schwerter der Soldaten und die glitzernden Harnische ihrer Befehlshaber verliehen dem Geschehen einen glanzvollen Rahmen. WA 428.1
Paulus stand den Versammelten gegenüber, noch immer mit Fesseln an den Händen. Welch ein Gegensatz bot sich hier dar! Agrippa und Bernice verfügten über Macht und Ansehen, und deshalb huldigte ihnen die Welt. Aber ihnen fehlten die Charakterzüge, die Gott schätzt. Sie waren Übertreter seines Gesetzes, verdorben in ihrem Herzen wie in ihrem Wandel. Ihre Lebensweise erregte Abscheu im Himmel. WA 428.2
Der an einen Wachsoldaten gekettete betagte Gefangene wies dagegen in seiner äußeren Erscheinung nichts auf, was die Welt hätte veranlassen können, ihn zu verehren. An dem Ergehen dieses Mannes, der ohne Freunde, Reichtum und Ansehen dastand und wegen seines Glaubens an den Sohn Gottes gefangengehalten wurde, nahm aber der ganze Himmel Anteil. Engel waren seine Begleiter. Wäre die Herrlichkeit auch nur eines der himmlischen Boten sichtbar geworden, dann hätten alle königliche Pracht und aller königlicher Stolz verblassen müssen. Der König und die Höflinge wären zu Boden gestürzt wie einst die Hüter am Grabe Christi. WA 428.3
Festus stellte Paulus den Versammelten mit den Worten vor: “König Agrippa und alle ihr Männer, die ihr mit uns hier seid, da sehet ihr den, um welchen mich die ganze Menge der Juden angegangen hat zu Jerusalem und auch hier und schrien, er dürfe nicht länger leben. Ich aber, da ich erkannte, daß er nichts getan hatte, was des Todes wert sei, und er auch selber sich auf den Kaiser berief, habe ich beschlossen, ihn dorthin zu senden. Etwas Gewisses aber habe ich über ihn nicht, das ich meinem Herrn schreibe. Darum habe ich ihn lassen herbringen vor euch, allermeist aber vor dich, König Agrippa, auf daß ich nach geschehenem Verhör etwas habe, was ich schreiben kann. Denn es erscheint mir unsinnig, einen Gefangenen zu schicken und keine Beschuldigung wider ihn anzuzeigen.” Apostelgeschichte 25,24-27. WA 428.4
König Agrippa räumte nun Paulus die Freiheit ein, in eigener Sache zu reden. Der Apostel ließ sich weder durch die Pracht noch durch den hohen Rang seiner Zuhörer einschüchtern. Er wußte, welch geringen Wert vergänglicher Reichtum und hohe Stellungen haben. Nicht einen Augenblick ließ er sich entmutigen oder seiner Selbstbeherrschung berauben. WA 429.1
“Es ist mir sehr lieb, König Agrippa”, begann er, “daß ich mich heute vor dir verantworten soll über alles, dessen ich von den Juden beschuldigt werde, allermeist weil du kundig bist aller Sitten und Fragen der Juden. Darum bitte ich, du wollest mich geduldig hören.” Apostelgeschichte 26,2.3. WA 429.2
Paulus berichtete nun, wie er von seinem verstockten Unglauben zum Glauben an Jesus von Nazareth, den Erlöser der Welt bekehrt wurde. Er beschrieb die himmlische Erscheinung, die ihn zuerst mit unaussprechlichem Schrecken erfüllt, sich später aber als Quelle des Trostes erwiesen habe. In dieser Offenbarung himmlischer Herrlichkeit habe er im Mittelpunkt den thronen sehen, den er verachtet und gehaßt und dessen Nachfolger er eben noch zu vernichten gesucht hatte. Von dieser Stunde an sei er, Paulus, durch die umwandelnde Macht der Gnade ein neuer Mensch, ein aufrichtiger und eifriger Bekenner Jesu geworden. WA 429.3
Klar und eindringlich beschrieb Paulus dann vor Agrippa die bedeutsamsten Ereignisse, die mit dem Leben Jesu auf Erden verknüpft waren. Er wies nach, daß der geweissagte Messias in der Person Jesu von Nazareth bereits erschienen sei. Dann zeigte er, wie nach dem Zeugnis des Alten Testaments der Messias als ein Mensch unter Menschen erscheinen sollte und wie sich die durch Mose und die Propheten gegebenen Weissagungen im Leben Jesu bis in alle Einzelheiten erfüllt hätten. Um eine verlorene Welt zu erlösen, habe der heilige Gottessohn, die Schande nicht achtend, das Kreuz erduldet und sei danach als Sieger über Tod und Grab zum Himmel aufgefahren. WA 429.4
Warum, so führte Paulus weiter aus, solle es unglaublich erscheinen, daß Christus von den Toten auferstanden sei? Einst habe er das zwar auch gemeint, aber wie könnte er nach dem, was er inzwischen selbst gesehen und gehört habe, weiterhin daran zweifeln? Vor den Toren von Damaskus habe er den gekreuzigten und auferstandenen Christus mit eigenen Augen gesehen, denselben Christus, der auf den Straßen von Jerusalem gewandelt, auf Golgatha den Tod erlitten und, nachdem er des Todes Macht gebrochen, zum Himmel aufgefahren sei. Er habe ihn ebenso leibhaftig gesehen und mit ihm geredet wie Kephas, Johannes, Jakobus und andere Jünger. Und Jesu Stimme habe ihm befohlen, das Evangelium von einem auferstandenen Heiland zu verkündigen. Wie hätte er da ungehorsam sein können? In Damaskus, in Jerusalem, in ganz Judäa und selbst in weit entfernten Landesteilen habe er darum auch von Christus, dem Gekreuzigten, gezeugt und Menschen aller Schichten ermahnt, “daß sie Buße täten und sich bekehrten zu Gott und täten rechtschaffene Werke der Buße”. Apostelgeschichte 26,20. WA 430.1
“Um deswillen”, fuhr Paulus fort, “haben mich die Juden im Tempel gegriffen und versuchten, mich zu töten. Aber mit Gottes Hilfe stehe ich da bis auf diesen Tag und gebe Zeugnis den Kleinen und Großen und sage nichts, als was die Propheten und Mose gesagt haben, daß es geschehen sollte: daß der Christus sollte leiden und der erste sein aus der Auferstehung von den Toten und verkündigen das Licht dem Volk und den Heiden.” Apostelgeschichte 26,21-23. WA 430.2
Wie gebannt hatten die Anwesenden dem Bericht der wunderbaren Erfahrungen des Paulus gelauscht. Der Apostel verweilte bei seinem Lieblingsthema. Keiner seiner Zuhörer konnte an seiner Aufrichtigkeit zweifeln. Plötzlich wurde er mitten in seiner überzeugenden Darlegung von Festus mit dem Ruf unterbrochen: “Paulus, du rasest! Das große Wissen macht dich rasend.” Apostelgeschichte 26,24. WA 431.1
Der Apostel erwiderte: “Edler Festus, ich rase nicht, sondern ich rede wahre und vernünftige Worte. Denn der König weiß solches wohl, zu welchem ich freimütig rede. Denn ich achte, ihm sei der keines verborgen; denn solches ist nicht im Winkel geschehen.” Dann wandte er sich an Agrippa mit der persönlichen Frage: “Glaubst du, König Agrippa, den Propheten? Ich weiß, daß du glaubst.” Apostelgeschichte 26,25-27. WA 431.2
Tief ergriffen vergaß Agrippa für Augenblicke seine Umgebung und auch die Würde seiner Stellung. Er dachte nur noch an die Wahrheit, die er soeben vernommen hatte; er sah allein den bescheidenen Gefangenen als Gesandten Gottes vor sich stehen und antwortete unwillkürlich: “Es fehlt nicht viel, du wirst mich noch bereden und mich zum Christen machen.” Apostelgeschichte 26,28. WA 431.3
Mit ganzem Ernst entgegnete der Apostel: “Ich wünschte vor Gott, es fehle nun viel oder wenig, daß nicht allein du, sondern alle, die mich heute hören, solche würden, wie ich bin”, dabei hob er seine gefesselten Hände empor und fügte hinzu, “ausgenommen diese Fesseln.” Apostelgeschichte 26,29. WA 431.4
Eigentlich hätten Festus, Agrippa und Bernice die Fesseln tragen müssen, mit denen der Apostel gebunden war. Sie hatten sich sämtlich schwerer Vergehen schuldig gemacht. Den Übertretern war an diesem Tage das Heil in Christus angeboten worden. Einer von ihnen wäre beinahe überredet worden, die angebotene Gnade und Vergebung anzunehmen. Doch auch er, Agrippa, schlug dieses Anerbieten aus und weigerte sich, das Kreuz eines gekreuzigten Erlösers auf sich zu nehmen. WA 431.5
Nun war die Neugierde des Königs befriedigt. Er erhob sich von seinem Sitz und gab damit das Zeichen, daß die Versammlung beendet sei. Während die Anwesenden sich trennten, sprachen sie noch miteinander und kamen zu dem Ergebnis: “Dieser Mensch hat nichts getan, was des Todes oder der Fesseln wert sei.” Apostelgeschichte 26,31. WA 432.1
Obgleich Agrippa ein Jude war, teilte er nicht den fanatischen Eifer und das blinde Vorurteil der Pharisäer. “Dieser Mensch”, sagte er zu Festus, “hätte können losgegeben werden, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte.” Apostelgeschichte 26,32. Aber nun war dieser Fall einem höheren Gerichtshof überwiesen worden und unterstand nicht mehr der Gerichtsbarkeit des Festus oder des Agrippa. WA 432.2