Doch auch diese überstürzte Handlung wendete Gott so, dass seine Absicht erfüllt wurde. Mose war für seine große Aufgabe noch nicht gerüstet. Erst musste er die gleiche Lektion lernen, die auch Abraham und Jakob gelehrt bekommen hatten: Sich nicht auf menschliche Kraft oder Weisheit, sondern allein auf Gottes Macht zu verlassen, wenn es um die Erfüllung seiner Verheißungen ging. Darüber hinaus gab es noch weitere Lehren, die Mose in der Einsamkeit dieser Bergwelt lernen sollte. In der Schule der Selbstverleugnung und Entbehrung sollte er sich Geduld aneignen, um seine Leidenschaften zu beherrschen. Ehe er weise regieren konnte, musste er selbst Gehorsam lernen. Nur in völliger Übereinstimmung mit Gott konnte er Israel die Offenbarung des göttlichen Willens vermitteln. Aufgrund eigener Erfahrungen sollte er darauf vorbereitet werden, allen Hilfsbedürftigen gegenüber väterliche Fürsorge walten zu lassen. WAB 230.5
Menschen hätten in einer so langen Zeit mühevoller Arbeit und Ungewissheit nur einen großen Zeitverlust gesehen. Aber Gott berief in seiner unendlichen Weisheit Mose, den künftigen Führer seines Volkes, dazu, 40 Jahre lang den bescheidenen Dienst eines Hirten auszuüben. Die Gewohnheiten wie Fürsorge, Selbstvergessenheit und liebevoller Umgang mit der Herde, die er auf diese Weise entwickelte, bereiteten ihn darauf vor, ein mitfühlender, langmütiger Hirte Israels zu werden. Das war eine Erfahrung, die keine noch so vorzügliche menschliche Ausbildung oder Kultur hätte ersetzen können. WAB 231.1
Mose hatte vieles gelernt, was er wieder verlernen musste. Die Einflüsse, die ihn in Ägypten umgaben - die Liebe seiner Adoptiv-Mutter, seine hohe Stellung als Enkel des Königs, der überall gegenwärtige Luxus, das Vornehme, Feinsinnige und Geheimnisvolle einer falschen Religion, die Pracht des Götzendienstes und die feierliche Erhabenheit von Architektur und Bildhauerei - das alles hatte ihn während seiner Ausbildung stark beeinflusst und bis zu einem gewissen Grad seine Gewohnheiten und seinen Charakter geformt. Nur die Zeit, eine andere Umgebung und die Gemeinschaft mit Gott konnten diese Prägung beseitigen. Dem Irrtum abzusagen und die Wahrheit anzunehmen bedeutete für Mose ein Ringen, als ginge es um das eigene Leben. Doch Gott würde ihm helfen, falls die innere Auseinandersetzung die menschlichen Kräfte überstrapazierte. WAB 231.2
Bei allen, die berufen wurden, eine Aufgabe für Gott zu erfüllen, kommt eine menschliche Seite zum Vorschein. Das waren keine Menschen mit festgefahrenen Gewohnheiten und Charakteren, die sich mit ihrem Zustand zufriedengaben. Sie sehnten sich aufrichtig danach, von Gott Weisheit zu erhalten, um zu lernen, wie sie für ihn arbeiten könnten. Der Apostel Jakobus schrieb: »Fehlt es aber einem von euch an Weisheit, dann soll er sie von Gott erbitten; Gott wird sie ihm geben, denn er gibt allen gern und macht niemand einen Vorwurf.« (Jakobus 1,5 EÜ) Aber Gott wird niemandem Licht von oben schenken, der damit zufrieden ist, in der Finsternis zu bleiben. Um von Gott Hilfe zu erlangen, muss man sich seine eigene Schwäche und Unzulänglichkeit eingestehen. Man muss seinen eigenen Verstand bei der großen Veränderung, die in einem vor sich gehen soll, einsetzen. Man braucht die Bereitschaft zu ernsten und andauernden Gebeten und Anstrengungen. Schlechte Neigungen und Gewohnheiten müssen abgelegt werden. Den Sieg kann nur erringen, wer sich entschlossen bemüht, diese Fehler zu korrigieren und sich an guten Grundsätzen zu orientieren. Viele erreichen allerdings nie die Stellung, die sie einnehmen könnten, denn sie erwarten, dass Gott die Dinge für sie tut, für die er ihnen schon die Kraft zur Verfügung gestellt hat, um sie selbst zu regeln. Alle, die im Dienst für Gott brauchbar sein wollen, müssen durch eine sehr strenge geistige und moralische Schule gehen. Gott wird ihnen dabei helfen, indem er seine göttliche Kraft mit menschlichem Bemühen vereint. WAB 231.3
Umschlossen von gewaltigen Bergen war Mose allein mit Gott. Ägyptens prachtvolle Tempel konnten ihn nicht mehr mit ihrem Aberglauben und ihren Unwahrheiten beeindrucken. In der feierlichen Erhabenheit der ewigen Berge erblickte er die Majestät des Höchsten. Im Gegensatz dazu wurde ihm bewusst, wie ohnmächtig und bedeutungslos die Götter Ägyptens waren. Überall stand der Name des Schöpfers geschrieben. Mose schien es, als befinde er sich in dessen Gegenwart und werde von dessen Macht überschattet. Hier wurden sein Stolz und seine Selbstzufriedenheit hinweggefegt. In seinem einfachen, harten Wüstenleben verschwanden die Auswirkungen des bequemen, luxuriösen Wohllebens in Ägypten. Mose wurde geduldig, ehrfurchtsvoll und bescheiden, »ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden” (4. Mose 12,3). Er war stark im Glauben an den mächtigen Gott Jakobs. WAB 232.1
Als die Jahre vergingen und er mit den Herden einsame Gegenden durchzog, dachte er darüber nach, in welchem Zustand sich wohl sein unterdrücktes Volk befand. Er erinnerte sich daran, wie Gott seine Vorfahren geführt hatte. Er rief sich die Verheißungen ins Gedächtnis zurück, die dem auserwählten Volk gegeben worden waren. Tag und Nacht stiegen seine Gebete für Israel zum Himmel empor. Das Licht himmlischer Engel umflutete ihn. Hier schrieb er unter der Eingebung des Heiligen Geistes das Buch Genesis (das erste Buch Mose). Auf diese Weise erwiesen sich die vielen Jahre, die Mose einsam in der Wüste verbrachte, in so mancher Hinsicht als sehr segensreich - nicht nur für Mose und sein Volk, sondern auch für die Welt in allen späteren Zeiten. WAB 232.2