Der Auftrag Gottes muss das Herz des Vaters geradezu zerrissen haben: »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer.” (1. Mose 22,2) Isaak war das Licht in seinem Zuhause, der Trost seines hohen Alters und vor allem der Erbe des zugesagten Segens. Hätte er diesen Sohn durch Unfall oder Krankheit verloren, würde es ihn bis ins Mark getroffen haben, und der Kummer über den Verlust hätte sein graues Haupt gebeugt. Nun aber wurde ihm geboten, das Blut seines Sohnes mit eigener Hand zu vergießen. Das erschien ihm furchtbar, ja unmöglich! WAB 132.2
Satan war zur Stelle, um ihm einzuflüstern, dass er sich getäuscht haben müsse, denn Gottes Gesetz gebiete doch: »Du sollst nicht töten.« (2. Mose 20,13) Gott werde nicht fordern, was er einst verboten hatte! Abraham trat vor sein Zelt, schaute auf zur stillen Helligkeit des wolkenlosen Nachthimmels und rief sich Gottes Zusage, die er beinahe 50 Jahre zuvor erhalten hatte, ins Gedächtnis zurück: Er werde eine so unzählbare Nachkommenschaft haben, wie Sterne am Himmel stehen (vgl. 1. Mose 15,5). Wenn dieses Versprechen durch Isaak erfüllt werden sollte (vgl. 1. Mose 17,21), weshalb müsse er dann getötet werden? Abraham war versucht zu glauben, dass er einer Täuschung erlegen sei. Von Zweifel und Angst überwältigt, beugte er sich zur Erde nieder und betete wie nie zuvor in seinem Leben um eine Bestätigung dieses Befehls, wenn er diese entsetzliche Pflicht wirklich erfüllen musste. Er erinnerte sich an die Engel, die zu ihm gesandt worden waren, um ihm Gottes Absicht mit Sodom zu offenbaren, und ihm auch das Versprechen gaben, dass er diesen Sohn Isaak haben werde (vgl. 1. Mose 18,10.14). Er begab sich zu der Stelle, wo er mehrere Male die himmlischen Boten getroffen hatte. Wie sehr hoffte er, ihnen dort wieder zu begegnen und von ihnen weitere Anweisungen zu erhalten. Doch niemand kam, um ihm seine Last abzunehmen. Finsternis schien ihn zu umgeben. Aber dieses Gebot Gottes klang in seinen Ohren: »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast.” (1. Mose 22,2) Dem musste er gehorchen. Er wagte keinen Aufschub. Der Tag zog herauf, und es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. WAB 132.3
Abraham kehrte in sein Zelt zurück und trat an Isaaks Lager, wo dieser in tiefem, ungestörtem Schlaf lag, der Jugendlichen in ihrer Unschuld vorbehalten ist. Einen Augenblick schaute der Vater auf das liebe Gesicht des Sohnes, dann wandte er sich bebend ab. Er ging zu Sara, die ebenfalls schlief. Sollte er sie wecken, damit sie ihr Kind noch einmal umarmen konnte? Sollte er ihr etwas von Gottes Forderung sagen? Wie sehnte er sich danach, ihr sein Herz auszuschütten und diese schreckliche Verantwortung mit ihr zu teilen! Aber die Angst, sie könnte sich ihm in den Weg stellen, hielt ihn davon ab. Isaak war Saras Freude und ganzer Stolz. Ihr Leben war mit dem seinen aufs Engste verbunden. Deshalb wäre es gut möglich, dass sich die Mutterliebe diesem Opfer widersetzte. WAB 133.1
Schließlich weckte Abraham seinen Sohn und berichtete ihm von der Anweisung, auf einem entfernten Berg ein Opfer zu bringen. Isaak hatte seinen Vater oft zu einem der vielen Altäre begleitet, die dieser auf seinen Wanderungen errichtet hatte, um dort anzubeten. Deshalb überraschte ihn diese Aufforderung nicht. Schnell trafen sie die Vorbereitungen für die Reise. Sie legten Holz zurecht, luden es auf den Esel und machten sich mit zwei Knechten auf den Weg. WAB 133.2
Schweigend gingen Vater und Sohn Seite an Seite. Der Patriarch grübelte über sein dunkles Geheimnis nach. Ihm war nicht nach Worten zumute. Seine Gedanken galten der stolzen und liebenden Mutter und dem Tag, an dem er allein zu ihr zurückkehren würde. Nur zu gut wusste er, dass das Messer auch durch ihr Herz dringen würde, wenn es ihrem Sohn das Leben nahm. WAB 133.3
Der Tag - der längste, den Abraham jemals erlebt hatte - neigte sich langsam seinem Ende zu. Während sein Sohn und die beiden jungen Männer schliefen, verbrachte er die Nacht im Gebet. Noch immer hoffte er auf einen Boten vom Himmel, der ihm zurufen würde, dass es genug sei und Isaak unversehrt zu seiner Mutter zurückkehren dürfe. Aber seiner zermarterten Seele blieb jede Erleichterung versagt. Ein weiterer langer Tag und eine weitere Nacht in demütigem Gebet folgten, während der Befehl, der ihn kinderlos machen würde, immer in seinen Ohren klang. Satan machte sich an ihn heran, um ihm Zweifel und Unglauben einzuflüstern, aber Abraham widerstand der Versuchung. Als sie am dritten Tag aufbrechen wollten, schaute er nach Norden und erblickte das versprochene Zeichen: Eine Wolke der Herrlichkeit schwebte über dem Berg Morija. Nun war er sich sicher, dass die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte, vom Himmel gekommen war. WAB 134.1
Auch jetzt lehnte sich Abraham nicht gegen Gott auf, sondern schöpfte neue Kraft, indem er über die vielen Beweise der Güte und Treue Gottes nachdachte. Dieser Sohn war ihm unerwartet geschenkt worden. Hatte der, der ihm diese kostbare Gabe verlieh, nicht das Recht, sein Eigentum zurückzufordern? Dann klammerte er sich voll Vertrauen an die Zusage: »Nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden.” (1. Mose 21,12) Seine Nachkommen sollten so zahllos werden wie der Sand am Meer. Isaaks Geburt war ein Wunder gewesen. Könnte da die Macht, die ihm das Leben schenkte, es ihm nicht wieder zurückgeben? Als er über das Sichtbare hinaus schaute, begriff er das Wort: »Gott kann auch von den Toten erwecken.” (Hebräer 11,19) WAB 134.2
Niemand außer Gott konnte verstehen, wie groß das Opfer dieses Vaters war, der seinen Sohn töten sollte. Abraham hatte den Wunsch, dass niemand außer Gott die Abschiedsszene miterleben sollte. Deshalb befahl er seinen Knechten zurückzubleiben: »Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.” (1. Mose 22,5) Das Holz wurde Isaak, der das Opfer werden sollte, aufgebürdet. Der Vater nahm Messer und Feuer. Dann stiegen sie miteinander auf den Gipfel des Berges. Der junge Mann fragte sich dabei im Stillen, woher denn - so weit von Hürden und Herden entfernt - das Opfertier kommen sollte. »Mein Vater!«, sagte er schließlich. »Hier bin ich, mein Sohn«, antwortete Abraham. Wie doch die rührenden Worte »mein Vater” ihm ins Herz schnitten! »Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?” (1. Mose 22,7) Was für eine Prüfung! Noch nicht - nein, er konnte es ihm noch immer nicht sagen. Er antwortete ihm: »Gott wird schon für ein Opferlamm sorgen!” (1. Mose 22,8 GNB) WAB 134.3
Am vorgesehenen Platz bauten sie den Altar und legten das Holz darauf. Dann enthüllte Abraham mit zitternder Stimme seinem Sohn, was Gott ihm befohlen hatte. Mit Schrecken und Verwunderung vernahm Isaak sein Schicksal, aber er leistete keinen Widerstand. Eine Flucht wäre ihm jederzeit möglich gewesen, wenn er das gewollt hätte. Der gramgebeugte alte Mann, erschöpft von den inneren Kämpfen der letzten drei Tage, hätte dem Willen dieses kräftigen Jugendlichen nichts entgegensetzen können. Aber Isaak war von Kindheit an dazu erzogen worden, bereitwillig und vertrauensvoll zu gehorchen. Als ihm nun sein Vater Gottes Absicht offenbarte, fügte er sich willig und gehorsam. Er teilte Abrahams Vertrauen zu Gott und hielt es für eine Ehre, dazu berufen zu sein, Gott sein Leben als Opfer darzubringen. Einfühlsam versuchte er, den Kummer seines Vaters zu lindern, und half sogar den schwachen Händen, die Stricke zu binden, die ihn selbst an den Altar fesselten. WAB 135.1