Luther musste seine gefahrvolle Reise nicht alleine machen. Drei seiner besten Freunde entschlossen sich, ihn an der Seite des kaiserlichen Boten zu begleiten. Auch Melanchthon hätte sich ihnen gerne angeschlossen. Sein Herz war mit Luther verbunden, und er sehnte sich danach, ihm zu folgen, wenn nötig, auch ins Gefängnis oder in den Tod. Aber seinen Bitten wurde nicht entsprochen. Sollte Luther etwas zustoßen, so läge die Hoffnung der Reformation auf dem jungen Mitarbeiter. Als sich der Reformator von Melanchthon verabschiedete, sagte er: »Wenn ich nicht zurückkomme und meine Feinde mich töten, lehre du weiter und bleibe in der Wahrheit. Arbeite du an meiner Stelle. . Wenn du überlebst, wird mein Tod wenig Auswirkung haben.« (DAGR, VII, 7) Studenten und Bürger waren bei Luthers Abreise sichtlich gerührt. Viele, die das Evangelium angenommen hatten, weinten bei seinem Abschied. So machten sich der Reformator und seine Gefährten von Wittenberg aus auf den Weg. VSL 141.3
Unterwegs nahmen sie wahr, dass düstere Vorahnungen das Volk bedrückten. In einigen Städten wurde ihnen keine Ehre erwiesen. Als sie an einem Ort übernachteten, drückte ein freundlich gesinnter Priester seine Befürchtungen aus und zeigte ihnen das Bild eines italienischen Reformators, der als Märtyrer gestorben war. Am folgenden Tag erfuhren sie, dass Luthers Werke in Worms bereits verworfen worden waren. Offizielle Boten verkündeten den Beschluss des Kaisers und forderten das Volk auf, die geächteten Bücher den Behörden abzuliefern. Der kaiserliche Begleiter fürchtete um Luthers Sicherheit auf dem Reichstag, und da er meinte, dass Luther bereits unsicher geworden sei, fragte er ihn, ob er weiterreisen wollte. Dieser antwortete: »Ja, obwohl geächtet in allen Städten, werde ich doch fortziehen.” (DAGR, VII, 7; vgl. LEA, LXIV, 367) VSL 141.4
In Erfurt wurde Luther mit allen Ehren empfangen. Auf den Straßen, die er oft mit einem Bettelsack durchschritten hatte, bewunderte ihn jetzt die Menge. Er besuchte seine Klosterzelle und erinnerte sich an seine inneren Kämpfe. Das Licht, das seine Seele dort erleuchtet hatte, durchflutete nun ganz Deutschland. Man drängte ihn zum Predigen, was ihm eigentlich verboten worden war. Doch der kaiserliche Begleiter erlaubte es ihm und nun bestieg jener Mönch, der seinerzeit ein Klosterknecht war, die Kanzel. VSL 142.1
Einer überfüllten Versammlung predigte er die Worte Christi: »Friede sei mit euch! ... Ihr wisset auch, dass alle Philosophen, Doktoren und Skribenten sich beflissen zu lehren und schreiben, wie sich der Mensch zur Frömmigkeit halten soll, haben sich des sehr bemüht, aber wie man sieht, wenig ausgerichtet Denn Gott, der hat auserwählet einen Menschen, den Herrn Jesum Christ, dass der soll den Tod zerknirschen, die Sünden zerstören und die Hölle zerbrechen. Dies ist das Werk der Erlösung. ... Christus hat gesiegt! Dies ist die gute Nachricht, und wir werden durch sein Werk gerettet und nicht durch unsere eigenen. ... Unser Herr Christus hat gesagt: Habt Frieden und sehet meine Hände. Sieh Mensch, ich bin der allein, der deine Sünde hat hinweggenommen, der dich erlöste. Nun habe Frieden.« VSL 142.2
Er fuhr fort und zeigte auf, dass der wahre Glauben sich in einem heiligen Leben offenbart. »Da uns Gott gerettet hat, lasst uns unsere Werke ordnen, dass sie ihm annehmbar sind. Ist er reich, so soll sein Gut den Armen nutz sein; ist er arm, soll sein Verdienst den Reichen zugute kommen. . Denn wenn du merkst, dass du deinen Nutzen allein schaffst, so ist dein Dienst falsch.” (DAGR, VII, 7; vgl. LEA, XVI, 249-257) VSL 142.3
Gebannt hörten die Leute zu. Jenen nach Wahrheit hungernden Menschen wurde das Brot des Lebens gebrochen. Christus wurde vor ihnen über Päpste, Legaten, Kaiser und Könige erhoben. Luther machte keinerlei Andeutungen über seine gefährliche Lage. Er wollte sich nicht zum Mittelpunkt der Gefühle oder der Sympathien machen. Im Nachdenken über Christus vergaß er sich selbst. Er verbarg sich hinter dem Mann von Golgatha und wollte nur Jesus als den einzigen Erlöser des Sünders darstellen. VSL 142.4
Überall auf seinem weiteren Reiseweg brachte man ihm großes Interesse entgegen. Eine neugierige Menge war stets um ihn und freundliche Stimmen warnten vor den Absichten der Anhänger des Papstes. Einige sagten: »Man wird dich verbrennen wie den Hus”. Luther antwortete: »Und wenn sie gleich ein Feuer machten, das zwischen Wittenberg und Worms bis an den Himmel reicht, weil es aber gefordert wäre, so wollte ich doch im Namen des Herrn erscheinen und dem Behemoth zwischen seine großen Zähne treten und Christum bekennen und denselben walten lassen.” (DAGR, VII, 7; vgl. WLS, XV, 2172 u. 2173) VSL 143.1