Heutzutage klammern sich viele in gleicher Weise an die Gewohnheiten und Traditionen ihrer Väter. Wenn der Herr ihnen weiteres Licht übermittelt, lehnen sie es ab, weil sie meinen: Was er den Vätern nicht gezeigt hat, gilt auch nicht für sie. Wir befinden uns jedoch nicht mehr dort, wo unsere Väter waren und deshalb sind auch unsere Pflichten und Verantwortlichkeiten nicht mehr die gleichen. Gott wird es nicht gutheißen, wenn wir lediglich auf das Beispiel unserer Väter blicken und für die Bestimmung unserer Pflichten das Wort der Wahrheit nicht selbstständig untersuchen. Unsere Verantwortung ist größer als die unserer Vorfahren. Wir sind nicht nur für jenes Licht verantwortlich, welches sie bereits empfangen und uns als Erbe hinterlassen haben, sondern zusätzlich auch für solches, das uns heute aus dem Wort Gottes erleuchtet. VSL 153.1
Christus sagte von den ungläubigen Juden: »Wenn ich nicht gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können sie nichts vorwenden, um ihre Sünde zu entschuldigen.« (Johannes 15,22) Dieselbe göttliche Macht sprach durch Luther zum Kaiser und zu den deutschen Fürsten. Und als das Licht aus Gottes Wort erstrahlte, sprach sein Geist zum letzten Mal zu Vielen der Versammelten. So wie der Stolz und sein Streben nach Beliebtheit Pilatus viele Jahrhunderte zuvor dazu gebracht hatte, sein Herz vor dem Erlöser der Welt zu verschließen; so wie Felix dem Boten der Wahrheit zitternd geboten hatte: »Für diesmal geh! Zu gelegener Zeit will ich dich wieder rufen lassen« (Apostelgeschichte 24,25), und so wie der stolze Agrippa bekannt hatte: »Es fehlt nicht viel, so wirst du mich noch überreden und einen Christen aus mir machen« (Apostelgeschichte 26,28) und sich von der Botschaft vom Himmel abwandte, so unterwarf sich auch Karl V dem Diktat des weltlichen Stolzes und der Politik und verschmähte das Licht der Wahrheit. VSL 153.2
Gerüchte über die Absichten gegen Luther machten die Runde und brachten die ganze Stadt in Aufregung. Der Reformator hatte viele Freunde gewonnen, die die hinterhältigen Grausamkeiten Roms gegen all jene kannten, die es gewagt hatten, die Verdorbenheit der Kirche aufzudecken. Sie beschlossen, dass Luther nicht geopfert werden dürfe. Hunderte von Adligen verpflichteten sich, ihn zu schützen. Nicht wenige rügten die Botschaft des Kaisers öffentlich als ein Zeugnis von Schwäche vor der Vorherrschaft Roms. An Haustüren und auf öffentlichen Plätzen wurden Plakate aufgehängt, von denen einige die Verurteilung, andere die Unterstützung Luthers forderten. Auf einem waren nur die bedeutungsvollen Worte des weisen Salomos geschrieben: »Weh dir, Land, dessen König ein Kind ist!« (Prediger 10,16) In ganz Deutschland war die Begeisterung des Volkes für Luther spürbar. Sowohl dem Kaiser als auch dem Reichstag war damit klar, dass jedes Unrecht, das ihm zugefügt würde, den Frieden im Reich und sogar die Sicherheit des Thrones gefährden würde. VSL 153.3
Friedrich von Sachsen hielt sich mit seinen wirklichen Gefühlen für den Reformator wohlweislich zurück, während er gleichzeitig unermüdlich ein Auge auf ihn hatte und seine Wege und die seiner Feinde überwachte. Viele machten jedoch keinen Hehl aus ihrer Sympathie für Luther. Er wurde von Fürsten, Grafen, Baronen und anderen einflussreichen Persönlichkeiten kirchlichen und weltlichen Standes besucht. »Das kleine Zimmer des Doktors konnte die vielen Besucher, die sich vorstellten, nicht fassen”, schrieb Spalatin (MLTL, I; vgl. LEA, op. lat XXXVII, 15/16). Die Leute starrten auf ihn, als wäre er mehr als ein Mensch. Selbst solche, die seinen Lehren nicht glaubten, konnten seine Rechtschaffenheit nur bewundern, die ihm den Mut gab, eher den Tod zu erleiden als sein Gewissen zu verletzen. VSL 154.1
Alles wurde unternommen, um Luther zu einem Kompromiss mit Rom zu bewegen. Adlige und Fürsten machten ihm klar, dass er bald aus dem Reich verbannt würde und nicht mehr verteidigt werden könne, falls er gegen die Beschlüsse von Kirche und Reichstag weiterhin sein eigenes Urteil durchsetzen wolle. Auf diese Bitte antwortete Luther: »Das Evangelium Christi kann nicht ohne Widerstand verkündigt werden. ... Warum sollte dann die Furcht oder die Ahnung von Gefahr mich vom Herrn trennen und vom göttlichen Wort, das allein die Wahrheit ist? Nein, ich würde vielmehr meinen Leib, mein Leben und mein Blut dahingeben.” (DAGR, VII, 10; vgl. LEA, op. lat. XXXVII, 18) VSL 154.2
Erneut wurde er gedrängt, sich dem Urteil des Kaisers zu unterwerfen, denn dann hätte er nichts zu befürchten. Luther erwiderte: »Ich stimme von ganzem Herzen zu, dass der Kaiser, die Fürsten oder der geringste Christ meine Bücher prüfen und mein Werk beurteilen, aber nur unter der Bedingung, dass das Wort Gottes die Grundlage ist. Die Menschen müssen nur diesem allein gehorchen. Tut meinem Gewissen keine Gewalt an, das gebunden ist an die Heilige Schrift.« (DAGR, VII, 10) Einem anderen Aufruf entgegnete er: »Ich will eher das sichere Geleit aufgeben. Ich lege meine Person und mein Leben in die Hand des Kaisers, doch niemals Gottes Wort - nie!« (DAGR, VII, 10) Er erklärte seine Bereitschaft, sich der Entscheidung eines allgemeinen Konzils zu unterwerfen, aber nur unter der Bedingung, dass es nach der Schrift entscheide. »Was das Wort Gottes und den Glauben anbelangt«, fügte er hinzu, »so kann jeder Christ ebenso gut urteilen wie der Papst es für ihn tun könnte, sollten ihn auch eine Million Konzilien unterstützen.” (MLTL, I,; vgl. LHA, II, 107) Freunde und Feinde waren schließlich überzeugt, dass weitere Vermittlungsversuche zwecklos seien. VSL 154.3
Hätte der Reformator in nur einem einzigen Punkt nachgegeben, hätten Satan und seine Heere den Sieg errungen. Doch seine standhafte Entschlossenheit brachte der Kirche die Befreiung und führte sie in ein neues und besseres Zeitalter. Der Einfluss dieses einen Mannes, der es gewagt hatte, in religiösen Fragen selbstständig zu denken und zu handeln, sollte die Kirche und die Welt nicht nur zu seiner Zeit verändern, sondern für alle zukünftigen Generationen. Seine Entschlossenheit und Treue sollten bis zum Ende der Zeit ein Vorbild für alle sein, die ähnliche Erfahrungen machen müssen. Die Macht und Majestät Gottes überragten den Rat der Menschen und die mächtige Kraft Satans. VSL 155.1