1516 wurde Zwingli eine Pfarrstelle im Kloster Einsiedeln angeboten. Hier erhielt er einen klareren Einblick in die Verdorbenheit Roms, und von hier aus reichte sein reformatorischer Einfluss weit über sein heimatliches Alpenland hinaus. Ein angeblich Wunder wirkendes Bildnis der Jungfrau Maria war eine der Hauptattraktionen von Einsiedeln. Über der Eingangspforte des Klosters war zu lesen: »Hier findet man volle Vergebung der Sünden.” (DAGR, VIII, 142; WHKG, IV, 142) Das ganze Jahr hindurch kamen Pilger zum Gnadenbild der Jungfrau. Doch zum jährlichen Fest ihrer Weihe strömten große Menschenmengen aus allen Gegenden der Schweiz und sogar aus Frankreich und Deutschland herbei. Dieser Anblick betrübte Zwingli sehr, und er nutzte die Gelegenheit, diesen im Aberglauben gefangenen Menschen die Freiheit durch das Evangelium zu verkünden. VSL 162.1
»Meint nicht«, sagte er, »dass Gott in diesem Tempel eher ist als an irgendeinem Ort der Schöpfung. Wo auch immer das Land liegt, in dem ihr wohnt, Gott ist unter euch und hört euch. ... Können unnütze Werke, lange Wallfahrten, Geschenke und Bitten an die Jungfrau oder die Heiligen euch die Gnade Gottes sichern? ... Was hilft das Plappern von Worten, mit denen wir unsere Gebete schmücken? Welchen Wert haben eine glänzende Kapuze, eine säuberlich geschorene Glatze, mit Gold geschmückte Schuhe? . Gott schaut das Herz an, aber unsere Herzen sind fern von ihm ...” »Christus«, sagte er, »der einmal für uns am Kreuz geopfert wurde, ist das Opfer, das Sühne gebracht hat für die Gläubigen bis in alle Ewigkeit.” (DAGR, VIII, 5; vgl. SSZ, I, 216.232) VSL 162.2
Vielen Hörern waren solche Lehren unangenehm. Für sie war es eine bittere Enttäuschung, zu hören, dass sie ihre mühsame Reise vergeblich unternommen hatten. Sie konnten nicht fassen, dass ihnen die Vergebung durch Christus frei angeboten wurde. Sie waren mit dem alten Weg zum Himmel, den Rom für sie ausgesucht hatte, zufrieden und schreckten vor einer Suche nach etwas Besserem zurück. Es war leichter, ihre Seligkeit den Priestern und dem Papst anzuvertrauen als nach der Reinheit des Herzens zu trachten. VSL 163.1
Andere hingegen freuten sich über die frohe Nachricht von der Erlösung durch Christus. Die Einhaltung von Regeln, die ihnen Rom auferlegte, brachte ihnen keinen Seelenfrieden, und sie nahmen im Glauben das Blut ihres Erlösers zu ihrer Versöhnung an. Zu Hause erzählten sie anderen von dem kostbaren Licht, das sie empfangen hatten. So verbreitete sich die Wahrheit von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt und die Zahl der Pilger, die zum Gnadenbild der Jungfrau kamen, nahm drastisch ab. Die Opfergaben gingen zurück und damit verringerte sich auch Zwinglis Gehalt, welches aus diesen Einkünften bezahlt wurde. Das löste bei ihm jedoch nur Freude aus, denn er erkannte, dass die Macht des Fanatismus und des Aberglaubens gebrochen wurde. VSL 163.2