Die Kirchenführer sahen sehr wohl, was Zwingli bewirkte, doch vorerst warteten sie ab und schritten nicht ein. Noch hofften sie, ihn für ihre Sache gewinnen zu können und umwarben ihn mit Schmeichelei. Unterdessen gewann jedoch die Wahrheit die Herzen des Volkes. VSL 163.3
In Einsiedeln wurde Zwingli auf eine größere Aufgabe vorbereitet und schon bald sollte er sie in Angriff nehmen. Nach drei Jahren wurde er im Dezember 1518 als Leutpriester an das Großmünster nach Zürich berufen. Zürich war damals die bedeutendste Stadt der Schweizerischen Eidgenossenschaft und ihr Einfluss war weit herum spürbar. Die Chorherren, auf deren Einladung Zwingli nach Zürich kam, hielten aber nichts von Neuerungen und gaben ihm die folgenden Anweisungen: VSL 163.4
»Du musst nicht versäumen”, sagten sie, »für die Einkünfte des Domkapitels zu sorgen und auch das Geringste nicht verachten. Ermahne die Gläubigen von der Kanzel und dem Beichtstühle, alle Abgaben und Zehnten zu entrichten und durch Gaben ihre Anhänglichkeit an die Kirche zu bewähren. Auch die Einkünfte von Kranken, von Opfern und jeder andern kirchlichen Handlung musst du zu mehren suchen. Auch gehört zu deinen Pflichten die Verwaltung des Sakramentes, die Predigt und die Seelsorge. In mancher Hinsicht, besonders in der Predigt, kannst du dich durch einen Vikar ersetzen lassen. Die Sakramente brauchst du nur den Vornehmen, wenn sie dich auffordern, reichen; du darfst es sonst ohne Unterschied der Personen nicht tun.« (DAGR, VIII, 6; vgl. SSZ, 227; HHE, IV, 63-85) VSL 163.5
Zwingli hörte dieser Dienstanweisung ruhig zu. Dann dankte er für die Ehre, in ein so hohes Amt berufen worden zu sein, und erklärte, wie er dieses auszuführen gedenke: »Das Leben Christi, des Erlösers”, sagte er, »ist zu lange den Leuten vorenthalten worden. Ich werde vom ganzen Evangelium des Matthäus predigen ... und nur aus der Quelle der Schrift nehmen und ihre Tiefen ergründen, einen Abschnitt mit dem anderen vergleichen und nach Verständnis durch dauerndes und ernstes Gebet suchen. Zur Ehre Gottes, seines eingeborenen Sohnes, der wahren Erlösung der Menschen und der Erbauung im wahren Glauben, dem ich meinen Dienst weihen werde.« (DAGR, VIII, 6; vgl. MZ, 6; BRGE, I, 12) Obwohl etliche der Chorherren diesen Plan nicht billigten und versuchten, Zwingli davon abzubringen, blieb er standhaft und erklärte, er wolle keine neue Methode einführen, sondern die alte Methode fortsetzen, welche die Kirche in früheren und reineren Zeiten benutzt hatte. VSL 164.1
Es war bereits Interesse an der Wahrheit, die er lehrte, erwacht, und das Volk strömte in großer Zahl zu seinen Predigten. Unter den Zuhörern waren viele, die schon lange keinen Gottesdienst mehr besucht hatten. Zwingli begann seinen Gottesdienst, indem er die Evangelien öffnete und seinen Zuhörern die inspirierten Berichte über das Leben, die Lehren und den Tod Christi erklärte. Wie schon in Einsiedeln stellte er hier das Wort Gottes als die einzig unfehlbare Autorität und den Tod Christi als das einzig vollkommene Opfer dar. »Zu Christus«, sagte er, »möchte ich euch führen - zu Christus, der wahren Quelle der Erlösung.” (DAGR, VIII, 6; SSZ, VII, 142 ff.) Leute aus allen Volksschichten - vom Staatsmann und Gelehrten bis zum Handwerker und Bauern - scharten sich um diesen Prediger. Seine Worte wurden mit großem Interesse aufgenommen. Er verkündigte nicht nur das Geschenk der Erlösung, sondern tadelte auch furchtlos die Missstände seiner Zeit. Nach einem Predigtbesuch im Großmünster priesen manche Gott. »Dieser ist ein rechter Prediger der Wahrheit, der wird sagen, wie die Sachen stehn, und als ein Mose uns aus Ägypten führen.” (DAGR, VIII, 6; HHK, IV, 40) VSL 164.2
Am Anfang waren die Leute begeistert von seinen Auftritten, doch mit der Zeit regte sich Widerstand. Die Mönche begannen sein Werk zu behindern und seine Lehren zu verurteilen. Viele überschütteten ihn mit Hohn und Spott, andere wurden frech und drohten ihm. Aber Zwingli ertrug all dies mit Geduld und sagte: »Wenn man die Bösen zu Christus führen will, so muss man bei manchem die Augen zudrücken.« (DAGR, VIII, 6; vgl. SCR, 155) VSL 165.1