Manche besitzen nur eine sehr enge Auffassung von der Versöhnung. Sie glauben, daß Christus nur einen geringen Teil der Strafe des Gesetzes Gottes erduldete. Weiterhin behaupten sie, daß er in all seinen qualvollen Leiden die Gewißheit der väterlichen Liebe und der Annahme seines Opfers besessen hätte, während der Zorn Gottes über ihm war; die Pforten des Grabes wären vor ihm mit lichter Hoffnung erleuchtet gewesen, und er hätte die bleibende Gewißheit seiner zukünftigen Herrlichkeit in sich getragen. Hierin liegt ein schweres Mißverständnis. Das Mißfallen seines Vaters verursachte Christus die bitterste Qual. Aus diesem Grunde war sein seelischer Kampf von solcher Heftigkeit, daß wir Menschen uns davon nur eine schwache Vorstellung machen können. Sch1 213.1
Bei vielen erweckt der Bericht von der Menschwerdung, von der Erniedrigung und von dem Opfer unseres göttlichen Herrn weder tiefere Anteilnahme noch berührt er das Herz und beeinflußt das Leben mehr, als die Schilderungen vom Tode der christlichen Märtyrer. Gewiß haben viele den Tod durch Folterung, andere durch Kreuzigung erlitten. Worin unterscheidet sich aber der Tod des geliebten Sohnes Gottes von diesen? Es ist wahr, er starb am Kreuz eines sehr qualvollen Todes, doch andere haben um seinetwillen das gleiche erduldet, soweit es körperliche Qualen betrifft. Warum litt Christus mehr als andere Menschen, die um seinetwillen ihr Leben hingegeben haben? Wenn die Leiden Christi nur aus körperlichem Schmerz bestanden hätten, dann wäre sein Tod nicht schmerzhafter gewesen als der vieler Märtyrer. Sch1 213.2
Körperliche Schmerzen jedoch waren in dem Todeskampf des eingeborenen Sohnes Gottes nur von geringer Bedeutung. Die Sünden der Welt lasteten ebenso auf ihm wie der Zorn Gottes, als er die Strafe für die Übertretungen des Gesetzes erlitt. Dies beugte seine göttliche Seele nieder. Verzweiflung überkam ihn, weil sein Vater das Angesicht vor ihm verbarg und er sich von ihm verlassen wähnte. Die weite Kluft, die die Sünde zwischen Gott und Mensch hervorgerufen hatte, wurde von dem unschuldig Gekreuzigten von Golgatha in aller Klarheit empfunden. Er würde von den Mächten der Finsternis bedrängt. Es gab für ihn nicht einen einzigen Hoffnungsstrahl, der die Zukunft erhellt hätte. Er kämpfte gegen die Macht Satans, der erklärte, Christus in seiner Gewalt zu haben und dem Sohne Gottes an Stärke überlegen zu sein. Ebenso behauptete er, daß Gott seinen Sohn verstoßen habe und dieser nun, gleichwie auch er, nicht mehr das Wohlgefallen Gottes besitze. Warum mußte er sterben, wenn er wirklich noch unter der Obhut Gottes stand? Gott konnte ihn ja vom Tode erretten! Sch1 213.3
Christus gab seinem Peiniger nicht im geringsten nach, selbst nicht während seiner heftigsten Schmerzen. Legionen böser Engel umlagerten den Sohn Gottes; dennoch wurde den heiligen Engeln nicht gestattet, deren Reihen zu durchbrechen und sich mit dem höhnenden und schmähenden Feind in einen Kampf einzulassen. Sie durften der ringenden Seele des Sohnes Gottes nicht helfen. In dieser schrecklichen Stunde der Finsternis, als ihm das Angesicht seines Vaters verborgen war, als ihn Legionen böser Engel umgaben und die Sündenlast der Welt auf ihm lag, da geschah es, daß sich seinen Lippen die Worte entrangen: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Matthäus 27,46. Sch1 214.1