Kapitel 47: Wieder im Gefängnis
Die Arbeit des Apostels Paulus in den Gemeinden nach seiner Freilassung in Rom konnte seinen Feinden nicht verborgen bleiben. Seit dem Ausbruch der Verfolgung unter Nero sprach man von den Christen als von einer verbotenen Sekte. Ungläubige Juden verfielen nach geraumer Zeit auf den Gedanken, Paulus des Verbrechens der Brandstiftung in Rom zu bezichtigen. Keiner von ihnen glaubte ernsthaft, daß er schuldig sei. Aber sie wußten, daß eine solche Anklage, wenn man ihr nur einen Schimmer von Wahrscheinlichkeit verlieh, sein Schicksal besiegeln würde. Auf ihr Betreiben wurde Paulus abermals festgenommen und endgültig ins Gefängnis gebracht.WA 485.1
Auf seiner zweiten Reise nach Rom wurde Paulus von etlichen seiner Gefährten begleitet. Andere wollten ernstlich sein Los mit ihm teilen; doch er erlaubte es nicht, daß sie ihr Leben in Gefahr brachten. Diesmal waren die Aussichten für ihn weit ungünstiger als zur Zeit seiner ersten Gefangenschaft. Die Verfolgung unter Nero hatte die Zahl der Christen in Rom bedeutend verringert. Tausende hatten um ihres Glaubens willen den Märtyrertod erlitten; viele hatten die Stadt verlassen, und die zurückblieben, waren niedergeschlagen und eingeschüchtert.WA 485.2
Gleich nach seiner Ankunft in Rom wurde Paulus in einen düsteren Kerker geworfen. Dort sollte er bis an sein Ende bleiben. Er stand unter der Anklage, eines der niedrigsten und schrecklichsten Verbrechen gegen Stadt und Volk begangen zu haben, und wurde deshalb allgemein verachtet.WA 485.3
Die wenigen Freunde, die bisher die Lasten des Apostels mitgetragen hatten, verließen ihn jetzt. Einige flohen, andere begaben sich mit Aufträgen zu verschiedenen Gemeinden. Phygelus und Hermogenes gingen zuerst fort. (2.Timotheus 1,15). Dann ließ auch Demas — aus Furcht vor den sich düster zusammenziehenden Wolken von Schwierigkeiten und Gefahren — den verfolgten Apostel im Stich. (2.Timotheus 4,10). Creszens wurde von Paulus zu den Gemeinden in Galatien gesandt, Titus nach Dalmatien, Tychikus nach Ephesus. (2.Timotheus 4,10.12). Aus diesem Erleben schrieb Paulus an Timotheus: “Lukas ist allein bei mir.” (2.Timotheus 4,11).WA 486.1
Noch nie hatte der Apostel Paulus die Unterstützung seiner Brüder so nötig gehabt wie jetzt, da er, geschwächt durch Alter, mühevolle Arbeit und Gebrechen, in dem feuchten, dunklen Gewölbe eines römischen Gefängnisses eingeschlossen war. Da waren die Dienste des Lukas, des geliebten Jüngers und treuen Freundes, für Paulus eine große Ermutigung und machten es ihm möglich, die Verbindung zu seinen Brüdern und zu der Außenwelt aufrechtzuerhalten.WA 486.2
In dieser schweren Zeit wurde Paulus auch durch die häufigen Besuche des Onesiphorus erfreut. Dieser warmherzige Epheser tat, was in seinen Kräften stand, um Paulus die Kerkerhaft zu erleichtern. Sein geliebter Lehrer war gefesselt um der Wahrheit willen, während er selber frei umherging. Darum scheute er keine Mühe, um des Apostels Los erträglicher zu machen.WA 486.3
In seinem letzten Brief schrieb Paulus über diesen treuen Jünger: “Der Herr gebe Barmherzigkeit dem Hause des Onesiphorus; denn er hat mich oft erquickt und hat sich meiner Kette nicht geschämt, sondern als er in Rom war, suchte er mich aufs fleißigste und fand mich. Der Herr gebe ihm, daß er finde Barmherzigkeit bei dem Herrn an jenem Tage.” 2.Timotheus 1,16-18.WA 486.4
Das Verlangen nach Liebe und Mitgefühl hat Gott in das Herz des Menschen eingepflanzt. Auch Christus sehnte sich in der Stunde seines bitteren Kampfes in Gethsemane nach dem Mitgefühl seiner Jünger. Obwohl Paulus alle Leiden und Beschwernisse tapfer zu tragen schien, sehnte er sich nicht weniger nach Mitgefühl und Bruderschaft. Er, der sein Leben im Dienste für andere eingesetzt hatte, empfing nun durch die Besuche des Onesiphorus in seiner Einsamkeit und Verlassenheit Freude und Trost.WA 487.1