Kapitel 2: Die Ausbildung der Zwölf
Zur Weiterführung seines Werkes bediente sich Christus weder der Gelehrsamkeit und Beredsamkeit des Hohen Rates der Juden noch der Macht Roms. Er überging die selbstgerechten jüdischen Lehrer und erwählte bescheidene, ungelehrte Männer für die Verkündigung der Wahrheiten, die die Welt bewegen sollten. Diese Männer wollte er zu Lehrern seiner Gemeinde ausbilden und erziehen. Sie wiederum sollten andere heranbilden und mit der Evangeliumsbotschaft aussenden. Damit ihr Werk erfolgreich sei, sollten sie mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgerüstet werden. Nicht durch menschliche Macht oder Weisheit sollte das Evangelium gepredigt werden, sondern durch die Kraft Gottes.WA 17.1
Dreieinhalb Jahre lang wurden die Jünger von dem größten Lehrer unterwiesen, den die Welt je gekannt hat. Durch persönlichen Kontakt und Umgang bildete Christus sie für seinen Dienst aus. Tag für Tag gingen und sprachen sie mit ihm, hörten seine trostreichen Worte an die Mühseligen und Beladenen, sahen, wie sich seine göttliche Kraft an den Kranken und Niedergeschlagenen kundtat. Manchmal lehrte er sie, wenn er mit ihnen am Bergeshang saß; manchmal eröffnete er ihnen die Geheimnisse des Reiches Gottes, wenn sie am Ufer des Sees entlanggingen. Wo immer Herzen für die göttliche Botschaft aufgeschlossen waren, offenbarte er die Wahrheiten über den Weg des Heils. Er befahl seinen Jüngern nicht, dies oder jenes zu tun, sondern sagte: “Folget mir nach!” Er nahm sie mit auf seine Reisen durch das Land und die Städte, damit sie erlebten, wie er das Volk lehrte. Von Ort zu Ort reisten sie mit ihm, teilten sein einfaches Mahl und waren wie er zuweilen hungrig und müde. Sie waren bei ihm im Gedränge auf den Straßen, am Ufer des Sees und in der Einsamkeit der Wüste. Sie erlebten ihn in jeder Lebenslage.WA 17.2
Die Berufung der Zwölf war der erste Schritt zur Gründung der Gemeinde, die nach Christi Weggang sein Werk auf Erden weiterführen sollte. Von dieser Berufung wird berichtet: “Er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche er wollte, und die gingen hin zu ihm. Und er ordnete zwölf, daß sie bei ihm sein sollten und daß er sie aussendete, zu predigen.” Markus 3,13.14.WA 18.1
Welch ein ergreifendes Bild: Christus in himmlischer Majestät umgeben von den Zwölf, die er erwählt hat, ist dabei, sie in ihr Werk einzuweisen. Ausgerüstet mit seinem Wort und Geist, sollten diese schwachen Helfer allen Menschen das Angebot der Erlösung bringen.WA 18.2
Voller Freude betrachteten Gott und die Engel dieses Bild. Der Vater wußte, daß von diesen Männern das Licht des Himmels ausstrahlen würde und daß ihr Christuszeugnis von Generation zu Generation bis zum Ende der Zeiten Widerhall finden würde.WA 18.3
Als Zeugen Christi sollten die Jünger hinausgehen, um der Welt zu verkündigen, was sie bei ihrem Herrn gesehen und gehört hatten. Ihr Dienst war der wichtigste, zu dem Menschen jemals berufen wurden, allein überragt vom Werke Christi. Gemeinsam mit Gott sollten die Jünger zur Errettung von Menschen wirken. Wie die zwölf Patriarchen das alttestamentliche Israel verkörperten, so stehen die zwölf Apostel für die neutestamentliche Gemeinde.WA 18.4
Während seines irdischen Lehramtes begann Christus die Trennwand zwischen Juden und Heiden niederzureißen und das Heil für alle Menschen zu predigen. Obwohl er Jude war, verkehrte er freimütig mit den Samaritern und setzte sich über die pharisäischen Gewohnheiten diesem geringgeschätzten Volk gegenüber hinweg. Er schlief unter ihrem Dach, aß an ihren Tischen und lehrte auf ihren Straßen.WA 18.5
Der Heiland wollte seinen Jüngern die Wahrheit darlegen, wie “die trennende Scheidewand” (Epheser 2,14, Menge) zwischen Israel und den anderen Völkern niedergerissen werde, so daß auch “die Heiden Miterben sind ... und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus ... durch das Evangelium”. Epheser 3,6. Diese Wahrheit wurde zum Teil offenbart, als er den Glauben des Hauptmanns zu Kapernaum belohnte und auch als er den Einwohnern von Sichar das Evangelium predigte. Noch deutlicher zeigte sich dies bei seinem Besuch in Phönizien, als er die Tochter der kanaanaischen Frau heilte. Diese Erfahrungen halfen den Jüngern zu verstehen, daß unter den Menschen, die man der Erlösung für unwürdig erachtete, viele waren, die sich nach dem Licht der Wahrheit sehnten.WA 19.1
Auf diese Weise suchte Christus die Jünger mit der Wahrheit vertraut zu machen, daß es im Reiche Gottes keine territorialen Grenzen, keine Gesellschaftsklassen und keine Oberschicht gibt und daß sie zu allen Völkern gehen und ihnen die Botschaft von der Liebe des Heilandes verkündigen sollten. Doch erst später begriffen sie in vollem Umfang, was es heißt, das Gott gemacht hat, “daß das ganze Menschengeschlecht von einem einzigen her auf der ganzen Oberfläche der Erde wohnt, und hat für sie bestimmte Zeiten ihres Bestehens und auch die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt; sie sollten Gott suchen, ob sie ihn wohl wahrnehmen und finden möchten, ihn, der ja nicht ferne von einem jeden unter uns ist”. Apostelgeschichte 17,26.27 (Menge).WA 19.2
Diese zwölf Jünger waren von erstaunlicher Verschiedenartigkeit. Sie sollten die Lehrer der Welt werden und verkörperten die unterschiedlichsten Charaktere. Um das Werk, zu dem sie berufen waren, erfolgreich weiterführen zu können, mußten diese Männer, die sich in ihren natürlichen Veranlagungen und in ihren Lebensgewohnheiten so unterschieden, zu einem einheitlichen Fühlen, Denken und Handeln kommen. Diese Einheit wollte Jesus in ihnen schaffen, und deshalb suchte er sie zu dieser Einheit mit ihm zu führen. Die Last seiner Bemühungen um sie kommt in seinem Gebet zu seinem Vater zum Ausdruck: “Ich bete darum, daß sie alle eins seien. So wie du in mir bist und ich in dir, Vater, so sollen auch sie durch uns eins werden! Dann wird die Welt glauben, daß du mich gesandt hast ... Ich wirke in ihnen, und du wirkst in mir: so werden sie zu einer vollkommenen Einheit. Dann erkennt die Welt, daß du mich gesandt hast und daß du sie ebenso liebst wie mich.” Johannes 17,21.23 (GN). Beständig betete er darum, daß seine Jünger durch die Wahrheit geheiligt würden. Und er betete dies mit voller Zuversicht, wußte er doch, daß der Allmächtige dies schon vor Grundlegung der Welt verordnet hatte. Er wußte, das Evangelium vom Reich Gottes würde allen Völkern zu einem Zeugnis gepredigt werden, die Wahrheit, ausgerüstet mit der Kraft des Heiligen Geistes, würde im Kampf mit dem Bösen siegen, und das blutbefleckte Banner würde eines Tages siegreich über seinen Nachfolgern wehen.WA 19.3
Als Christi Dienst auf Erden sich dem Abschluß näherte und er sich vergegenwärtigte, daß er es bald seinen Jüngern würde überlassen müssen, das Werk ohne seine persönliche Leitung weiterzuführen, suchte er sie zu ermutigen und auf die Zukunft vorzubereiten. Er weckte keine falschen Hoffnungen in ihnen. Wie aus einem offenen Buch lesend sagte er ihnen, was kommen würde. Er wußte, daß er im Begriff war, sich von ihnen zu trennen und sie wie Schafe unter Wölfen zurückzulassen. Ferner wußte er, daß sie Verfolgung erleiden, aus den Synagogen ausgeschlossen und ins Gefängnis geworfen werden würden. Und er war sich bewußt, daß einige von ihnen den Tod erleiden würden, weil sie sich zu ihm als dem Messias bekannten. Einiges hierüber sagte er ihnen. Wenn er über ihre Zukunft sprach, tat er es klar und bestimmt, damit sie sich in der kommenden Prüfungszeit seiner Worte erinnerten und im Glauben an ihn als ihren Erlöser bestärkt würden.WA 20.1
Aber auch Worte der Hoffnung und Ermutigung richtete er an sie. “Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott und glaubet an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, würde ich dann zu euch gesagt haben: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe, — den Weg wisset ihr.” Johannes 14,1-4. Mit anderen Worten: Um euretwillen bin ich in die Welt gekommen, für euch habe ich gearbeitet. Wenn ich fortgehe, werde ich dennoch mit allem Eifer für euch wirken. Ich kam in die Welt, um mich euch zu offenbaren, auf daß ihr glauben könnt. Ich gehe zu meinem und zu eurem Vater, um gemeinsam mit ihm für euch zu wirken.WA 21.1
“Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun, denn ich gehe zum Vater.” Johannes 14,12. Damit meinte Christus nicht, daß die Jünger größere Anstrengungen machen würden als er, sondern daß ihr Werk sich weiter ausbreiten würde. Er bezog das nicht nur auf das Wirken von Wundern, sondern auf alles, was in der Kraft des Heiligen Geistes geschehen sollte. “Wenn aber der Tröster kommen wird, welchen ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird zeugen von mir. Und auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang bei mir gewesen.” Johannes 15,26.27.WA 21.2
Diese Worte haben sich wunderbar erfüllt. Nach der Ausgießung des Heiligen Geistes waren die Jünger so von inniger Liebe für ihren Herrn und für alle jene ergriffen, für die er starb, daß durch ihre Worte und Gebete die Herzen berührt wurden. Sie sprachen in der Kraft des Heiligen Geistes, und unter dem Einfluß dieser Macht wurden Tausende bekehrt.WA 21.3
Als Christi Vertreter sollten die Apostel einen nachhaltigen Eindruck auf die Welt machen. Die Tatsache, daß sie Männer einfacher Herkunft waren, sollte ihren Einfluß nicht verringern, sondern sogar vergrößern; denn die Gedanken ihrer Zuhörer würden von ihnen weg hin auf den Heiland gelenkt werden, der unsichtbar noch immer mit ihnen wirkte. Die wunderbaren Lehren der Apostel, ihre Worte der Ermutigung und des Vertrauens sollten allen beweisen, daß sie nicht aus eigener Kraft, sondern in der Kraft Christi tätig waren. In Selbstbescheidenheit sollten sie erklären, daß Jesus, den die Juden gekreuzigt hatten, der Fürst des Lebens und Sohn des lebendigen Gottes sei und daß sie in seinem Namen Taten wie er vollbrachten.WA 22.1
In seinem Abschiedsgespräch mit den Jüngern in der Nacht vor seiner Kreuzigung erwähnte der Heiland mit keinem Wort weder seine erduldeten noch bevorstehenden Leiden. Er sprach nicht von der Schmach, die ihn erwartete, sondern wollte ihre Gedanken auf das lenken, was ihren Glauben stärken konnte. Deshalb richtete er ihren Blick auf das Glück, das den Überwinder erwartet. Er freute sich in dem Bewußtsein, daß er für seine Nachfolger mehr tun konnte und tun würde, als er ihnen versprochen hatte, daß von ihm Liebe und Anteilnahme fließen, die den Tempel der Seele reinigen und Menschen ihm wesensähnlich machen würden. Ja, seine Wahrheit würde — ausgerüstet mit der Kraft des Heiligen Geistes — von Sieg zu Sieg schreiten.WA 22.2
“Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.” Johannes 16,33. Christus wurde weder schwach noch mutlos. Einen ebenso ausdauernden Glauben sollten auch seine Jünger zeigen. Sie sollten so arbeiten, wie er gearbeitet hat, und sich auf seine Kraft verlassen. Und falls ihnen unüberwindbar scheinende Schwierigkeiten den Weg versperrten, sollten sie durch seine Gnade dennoch vorangehen, nicht verzweifeln und alles hoffen.WA 22.3
Christus hatte das ihm übertragene Werk vollendet. Er hatte diejenigen ausgewählt, die es unter den Menschen fortsetzen sollten. Nun sagte er: “Alles, was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein; und ich bin in ihnen verherrlicht. Und ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir. Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, daß sie eins seien gleichwie wir ... Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, du habest mich gesandt. Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und liebst sie, gleichwie du mich liebst.” Johannes 17,10.11.20-23.WA 23.1