Kapitel 59: Rücksicht auf Irrende
Wenn jemand in einer Angelegenheit Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen glaubt, obwohl ein anderer diesbezüglich bereits alles in seinen Kräften Stehende getan hat, sollte er seinem Glaubensbruder den Vorteil seiner Auffassung freundlich und geduldig auseinandersetzen. Er sollte ihn weder kritisieren noch die Lauterkeit seiner Absichten in Frage stellen. Das um so weniger, da er selbst nicht wünscht, verdächtigt oder zu Unrecht kritisiert zu werden. Der Bruder, dessen Herz für das Werk Gottes schlägt, wird zutiefst betrübt sein, wenn sein ernstes Bemühen um Gottes Werk gescheitert ist. Er wird deswegen dazu neigen, gegen sich selbst mißtrauisch zu sein und das Vertrauen in seine Urteilskraft zu verlieren. Nichts entmutigt ihn mehr, als wenn er sich seine Fehler bei den Aufgaben vergegenwärtigt, die Gott ihm aufgetragen hat und die ihm mehr bedeuten als das Leben. Wie unrecht ist es dann von seinen Brüdern, die seine Fehler bemerken, den Stachel unausgesetzt immer tiefer in sein Herz zu treiben. Mit jedem Stich schwächen sie seinen Glauben und Mut sowie sein Selbstvertrauen zu einem erfolgreichen Wirken beim Aufbau des Werkes Gottes.Sch1 274.2
Häufig müssen Wahrheit und Tatsachen den Irrenden deutlich gesagt werden, damit sie ihren Irrtum erkennen und bereuen und ihr Verhalten ändern. Dies sollte aber nicht mit Strenge und Härte, sondern immer in mitfühlender Zartheit geschehen, die die eigene Schwachheit berücksichtigt und sich selbst der Versuchung ausgesetzt sieht. Statt dem Betroffenen weh zu tun und ihn zu kränken, sollten wir ihn trösten und ihm neue Kraft geben, sobald er seine Fehler einsieht. Christus sprach in der Bergpredigt: “Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.” Matthäus 7,1.2. Unser Heiland tadelte vorschnelles Urteilen. “Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, ... und siehe, ein Balken ist in deinem Auge?” Matthäus 7,3.4. Es ist häufig der Fall, daß manche die Fehler ihrer Brüder sehr rasch entdecken; dabei sind sie selbst mit noch größeren Fehlern behaftet, denen gegenüber sie sich aber blind zeigen.Sch1 275.1
Alle Nachfolger Christi sollten so miteinander umgehen, wie wir wünschen, daß der Herr auch mit uns in unseren Fehlern und Schwächen umgehe. Wir irren alle und brauchen sein Erbarmen und seine Vergebung. Jesus nahm Menschengestalt an, damit er lernte, Barmherzigkeit zu zeigen und für sündige, irrende Sterbliche vor dem Vater zu bitten. Er erbot sich freiwillig, als Fürsprecher der Menschen zu wirken. Er erniedrigte sich selbst, um mit den Versuchungen bekannt zu werden, die den Menschen bedrängen. So kann er denen helfen, die versucht werden, und ihnen ein gütiger, treuer Hoherpriester sein.Sch1 275.2
Oftmals ergibt sich die Notwendigkeit, Sünde und Unrecht offen zu rügen und zu tadeln. Doch Prediger, die für die Erlösung ihrer Mitmenschen wirken, sollten weder den Fehlern der Menschen gegenüber mitleidlos sein noch die Schwächen ihres Wesens ans Licht zerren, bloßstellen oder schmähen. Sie brauchen nur zu überlegen, ob diese Handlungsweise, gegen sie angewandt, das gewünschte Resultat zeitigte. Würden Liebe und Vertrauen zu dem, der ihre Fehler auf diese Weise offenbarte, zunehmen können? Vor allem sollten die Fehler der Prediger, die im Werke Gottes beschäftigt sind, nur im engsten Kreise bekannt werden, denn es gibt viele schwache Menschen, die aus der Tatsache Nutzen ziehen, daß die Diener Gottes die gleichen Fehler und Schwächen haben wie andere Menschen auch. Es ist nicht gut, wenn Ungläubigen die Fehler eines Predigers zugetragen werden, zumal derselbe Prediger für würdig erachtet wird, künftig für die Errettung von Menschen zu wirken. Aus dieser Bloßstellung kann nur Schaden erwachsen, aber nichts Gutes. Dem Herrn mißfällt solche Handlungsweise, weil dadurch das Vertrauen des Volkes zu den Trägern des Werkes Gottes untergraben wird.Sch1 275.3
Der Charakter jedes Mitarbeiters sollte von seinen Amtsbrüdern sorgsam in Schutz genommen werden. “Tastet meine Gesalbten nicht an und tut meinen Propheten kein Leid!” 1.Chronik 16,22; Psalm 105,15. Fördert Liebe und Vertrauen! Fehlende Liebe und mangelndes Vertrauen unter den Predigern lassen den, der es daran fehlen läßt, ebensowenig glücklich werden wie seinen Bruder, der unter der Lieblosigkeit zu leiden hat. Die Liebe ist mächtiger als der Tadel. Die Liebe bahnt sich ihren Weg auch über Hindernisse hinweg, während der Tadel jeden Weg zum Herzen verschließt.Sch1 276.1